Dr. Walter Wolff (ganz rechts) im Garten mit seiner zweiten Ehefrau Elisabeth Hackbart-Bartholdy, Archiv S. Mott

Dr. Walter Wolff, der Arzt, der Martha Liebermann das Gift verschaffte?

21.5.2024 von Sophia Mott

Gastbeitrag der Autorin Sophia Mott

Im Rahmen unserer vergangenen Sonderausstellung „Im Fokus. Martha, Käthe und Maria. Die Frauen der Familie Liebermann“ beteiligt sich die Autorin Sophia Mott mit einem Beitrag zu Martha Liebermanns nahem Bekanntenkreis. 2019 erschien Motts historischer Roman „Dem Paradies so fern. Martha Liebermann“ bei ebersbach&simon, der 2022 verfilmt wurde. Im Zuge ihrer Recherchen sammelte sie einen enormen Schatz an bekanntem und weniger bekanntem Material. Eine Auswahl dieser Erkenntnisse stellt sie uns im Rahmen von mehreren Blogbeiträgen zur Verfügung. In diesem Beitrag der Reihe beleuchtet Sophia Mott die Verbindung Martha Liebermanns mit Anne Marie und Walter Wolff.

Die Situation in den 1940er Jahren in Berlin

In den Jahren 1941 und 1942, als die planmäßige Deportation von jüdischen Deutschen und von denen mit manchmal längst vergessenen jüdischen Wurzeln begann, sahen viele von ihnen im Suizid die einzige Möglichkeit, einem qualvollen Ende in irgendeinem Lager im Osten zu entgehen. Der selbstbestimmte Tod war die letzte Freiheit, die sie sich nehmen konnten. Aber nicht einmal den wollten ihnen die Nationalsozialisten zugestehen. Wer nach einem Selbstmordversuch noch lebend ins Jüdische Krankenhaus eingeliefert wurde, musste dort per Verordnung wieder aufgepäppelt werden, bis er oder sie fähig war zum Transport in die staatlich angeordnete Vernichtung.[1]

Auch Martha Liebermann hatte seit langem geplant, falls eine Auswanderung nicht doch noch möglich wäre, im Falle einer drohenden „Evakuierung“, wie die staatlichen Akteure die Deportation euphemistisch bezeichneten, diesen Schritt zu gehen. Aber so leicht war es für sie nicht, an das für die Selbsttötung bevorzugte Medikament, das Schlafmittel Veronal zu kommen. Die Versorgung erkrankter Juden durften allein jüdische Ärzte leisten, die nur über eine geringe Ausstattung mit Medikamenten verfügten.[2] Zudem waren viele jüdische Ärzte bereits ausgewandert.

Martha Liebermanns Hausarzt?

Wer Marthas Hausarzt in der Zeit nach Max Liebermanns Tod 1935 bis zur Flucht der Tochter Käthe Riezler mit Mann und Kind in die USA 1938 war, ist bisher nicht zu ermitteln gewesen. Vielleicht bedurfte sie auch keines Arztes. Im Jahr 1904  war Martha an Brustkrebs erkrankt gewesen und erfolgreich von James Israel, Chefarzt des Jüdischen Krankenhauses, operiert worden. Ferdinand Sauerbruch, der ein Nachbar am Wannsee war – er wohnte dort, wo heute die Bildungs- und Begegnungsstätte Clara Sahlberg in der Koblanckstraße steht – hatte in der Charité einen Leistenbruch von Max Liebermann operiert.

Man muss also davon ausgehen, dass Martha als Angehörige des Großbürgertums der Hauptstadt wenigstens bis 1938 über eine ausgezeichnete ärztliche Versorgung verfügte. Am 25. Juli wurden allerdings aufgrund der „4. Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ allen jüdischen Ärzten die Approbation entzogen. Nur eine kleinere Zahl durfte als „Krankenbehandler“ ausschließlich jüdische Patienten versorgen. In Berlin waren das 175 Ärzte und Ärztinnen.[3]

Der Chefarzt Dr. Walter Wolff

Bereits 1936 war Dr. Walter Wolff, Chefarzt der Inneren Abteilung des Königin Elisabeth- Hospitals in Berlin Oberschöneweide, entlassen worden. Nach der Definition der Nazi-Ideologie war er mit zwei jüdischen Großelternpaaren ein „Volljude“.[4]

Wolff war 1878 als Sohn eines Arztes geboren worden, sein Großvater mütterlicherseits war der Reichsgerichtspräsident Eduard von Simson. Die Wolffs waren ebenso wie die Simsons bereits Anfang des 19. Jahrhunderts zum Christentum übergetreten. Ein Bruder des Großvaters war evangelischer Pastor und Professor für Theologie, wie der Vorsitzende des Kuratoriums des Diakonissenmutterhauses Dr. Thiesing einem Staatssekretär des Inneren mitteilte, um die Wiedereinstellung des seit 20 Jahren am Elisabeth-Hospital erfolgreich tätigen Chefarztes zu erreichen. Besonders führte er die Verbindungen der Vorfahren und Verwandten Wolffs zum Preußischen Militär ins Feld. Die Schwestern von Wolffs Vater hatten beide preußische Generäle geheiratet, alle Geschwister Dr. Wolffs hatten sich, wie es heißt, „deutschblütig“ verheiratet. Auch Wolff hatte eine „arische“ Frau geheiratet. Sie muss noch im Jahr dieses Bittschreibens verstorben sein, vermutlich an Tuberkulose. Das bedeutete für Wolff, dass er nicht mehr in „privilegierter Mischehe“ lebte, die ihn später zumindest vorübergehend vor einer Deportation geschützt hätte. Es folgen in der Aufzählung seiner Verdienste, die Teilnahme als Freiwilliger am 1. Weltkrieg, der Erhalt des Eisernen Kreuzes II. Klasse und der Rotkreuz-Medaille III. Klasse, schließlich seine medizinischen Leistungen. Wolff war ein international anerkannter Spezialist für Magen-Darmerkrankungen. Sein Buch „Die Krankheiten der Verdauungsorgane“, war 1932 erschienen und gerade erst ins Spanische übersetzt worden. Der Brief eines Chefarztes der Universität Glasgow, eines spanischen Kollegen und schließlich der des Geheimrats Dr. Ferdinand Sauerbruch, der sich mit dem nationalsozialistischen Regime erfolgreich arrangiert hatte, sollten seine Anerkennung innerhalb der Kollegenschaft untermauern.[5]

Ablichtung eines Briefs des Vorsitzenden des Kuratoriums des Diakonissenmutterhauses Königin Elisabeth-Hospital, Historisches Archiv des Evangelischen Krankenhauses Königin Elisabeth Herzberge

Es half alles nichts. Am 23. April 1937 kam die Antwort von Dr. Stuckert aus dem Innenministerium: „Im Namen des Führers und Reichskanzlers teile ich Ihnen hierdurch mit, daß Ihrem Antrag auf Befreiung des Chefarztes Dr. Walter Wolff von der Vorschrift  § 6 der Zweiten Verordnung zum Reichsbürgergesetz nicht entsprochen worden ist. Dieser Bescheid ist endgültig.“[6]

 

Ablichtung des Bescheids, Der Reichs- und Preußische Minister des Inneren, 23. April 1937

Wolffs entzogene Approbation

In welchem Umfang er als Arzt und später als „Krankenbehandler“ weiterarbeitete, war nicht zu ermitteln. Ihr Vater habe resigniert, sei zu Hause gesessen und habe Patiencen gelegt, erzählte seine Tochter Anne Marie später in der Familie Walter Bauers, der als dritter Unterzeichner eines Telegramms an Martha Liebermanns Schwiegersohn von1942 gelten kann und sich für Marthas Emigration einsetzte. Einmal, so Anne Marie, habe der Vater schon zum Abtransport auf dem Bahnsteig gestanden, sei aber wieder freigekommen. Er habe keine Angst gehabt, es sei ihm alles gleichgültig gewesen. Dann seien sie ausgebombt worden.[7] Das kann aber frühesten im Jahr 1942, vielleicht auch bei dem großen Bombenangriff im November 1943 der Fall gewesen sein, bei dem auch Marthas letzte Wohnung im der Graf-Spee-Straße zerstört wurde. Es würde zu der Aussage Frau Bauer-Formiconis, der Tochter Walter Bauers passen, dass Anne Marie Wolff mit ihrem Vater und einer Frau Dr. Hedwig Freier 1943 in das Haus der Bauers in Lichterfelde zog, während die Familie Bauer nach Heilbronn zu den Großeltern ging, der Vater aber zwischen Berlin, Heilbronn und Fulda, wo er eine Beteiligung an einer Firma erworben hatte, hin- und herreiste.[8]

Laut Berliner Adressbuch wohnte Walther Wolff bis 1938 noch im Tiergartenviertel in der Parkstraße 19, also nicht weit von Martha Liebermanns letzter Wohnung in der Graf-Spee-Straße entfernt. 1939 ist er nicht mehr im Berliner Adressbuch zu finden. Vielleicht hatte jemand das Haus nominell übernommen. Martha Liebermann selbst war bis 1943 in dem großbürgerlichen Haus in der Graf-Spee-Straße 23 offiziell gemeldet unter: Max Prof Kunstmal W 35 Graf-Spee Str 23 T.[9] Da war Max bereits 7 Jahre tot. Er hatte nie in der Graf-Spee-Straße gewohnt. Aber sie war immer noch Frau Professor Liebermann. Das große „T“ im Eintrag steht übrigens für Telefon, das man Martha 1943 natürlich schon lange weggenommen hatte.

Anne Marie Wolffs neue Anstellung

Anne Marie Wolff begann etwa 1936/37 für Walter Bauer zu arbeiten. Sie war eigentlich ausgebildete Musiklehrerin, befand sich gerade im Referendariat, wurde aufgrund der „Rassegesetze“ aber entlassen und suchte nun eine neue Anstellung. Walter Bauer verlangte, dass sie zunächst eine Ausbildung zur Sekretärin machte. Etwa 1937 wurde sie fest eingestellt.[10]

Wer hatte ihr diesen Posten vermittelt? Es muss natürlich Spekulation bleiben, ob das eventuell Martha Liebermann gewesen sein könnte. Zumindest aber ist klar, dass es eine Verbindung gab zwischen Bauer und Dr. Walter Wolff. Wolff war evangelisch. Möglicherweise hatte er Beziehungen zu Mitgliedern der Bekennenden Kirche, der auch die Unterstützer Martha Liebermanns, Edgar von Uexküll und Walter Bauer angehörten. Vielleicht verlief die Verbindung also umgekehrt: Erst kannte Dr. Wolff den ehemaligen Diplomaten Baron Edgar von Uexküll oder den Unternehmer Walter Bauer und wurde dann Martha Liebermanns Arzt.

Martha Liebermanns verschlechternder Gesundheitszustand

Im Jahr 1942 erlitt die Witwe Max Liebermanns einen Schlaganfall. Vielleicht wurde Dr. Wolff gerufen. „Mit viel Einsatz konnte sie ihr Arzt retten“ berichtet Sabine Weyl eine ehemalige Nachbarin in der Graf-Spee-Straße und entfernte Verwandten Marthas in einem Interview. Die forsche Johanna Solf, Angehörige eines Helferkreises, der sich auch um Martha bemühte, soll angesichts der drohenden Evakuierung zu ihm gesagt haben, „es wäre vielleicht besser gewesen, wenn die alte Dame den Schlaganfall nicht überlebt hätte“. Der Arzt soll empört auf seinen Hippokratischen Eid hingewiesen haben.[11] War es Dr. Walter Wolff?

Marthas Schicksal ist bekannt. Sie kam wohl wieder zu Kräften, aber am 5.März 1943 stand ein Kriminalbeamter vor ihrer Tür, der sie zum Abtransport nach Theresienstadt bringen sollte. Er gab ihr noch zwei Stunden Zeit. Martha vergiftete sich mit den Schlaftabletten Veronal.

Die Tochter Walter Bauers erzählte, es sei in der Familie ein offenes Geheimnis gewesen, dass Dr. Wolff ihr das Gift verschafft hatte. Er verfügte noch über gute Kontakte zur Krankenhaus-Apotheke des Königin-Elisabeth-Hospitals. Widerspricht das der Erzählung Sabine Weyls, der Arzt habe sich aufgrund seines hippokratischen Eides unbedingt retten wollen, beziehungsweise konnte es also nicht Dr. Wolff gewesen sein, der Martha während ihrer Krankheit versorgt hatte?

Kein Visum für Martha Liebermann

Die Situation der Malerwitwe war Ende 1942 noch eine ganz andere. Man hoffte durch den Verkauf der Portraits von Max und Martha Liebermanns, die der schwedische Maler Anders Zorn gemalt hatte, genug Geld in Schweden zu erlösen, um die von den Nazis geforderte Reichsfluchtsteuer bezahlen zu können. Außerdem berichtete der schwedische Gesandte Arvid Richert kurz nach diesem gefährlichen Schmuggel durch den Baron Edgar von Uexküll in einem Brief, Martha Liebermann habe einen „leichten“ Schlaganfall erlitten.[12] Also mochte das Veronal für den absoluten Notfall gedacht sein, der dann am 5. März 1943 eintrat, als ein Polizeibeamter sie abholen wollte.

Anne Marie und Walter Wolff nach dem Krieg

Nach dem Krieg wurde Wolff wieder in seine alte Funktion als Chefarzt der Inneren Medizin am Königin-Elisabeth-Hospital eingesetzt. Er blieb dort bis 1953, da war er 75 Jahre alt. 1947 heiratete er seine Kollegin Elisabeth Hackbart-Bartholdy und ging mit ihr nach Tübingen, wo sie eine Fortbildung in der Erwachsenen- und Jugendpsychiatrie absolvierte.[13] Dr. Wolff hielt dort am Leibniz-Kolleg noch anderthalb Jahre lang allgemeinmedizinische Vorlesungen.[14]

 

Portraitaufnahme Elisabeth Hackbart-Bartholdy (zweite Ehefrau Walter Wolffs), Archiv S. Mott

 

Wolffs Tochter Anne Marie zog mit Walter Bauer nach Fulda, wo er das Textilunternehmen Mehler leitete. Sie blieb weiter seine Assistentin und rechte Hand, hatte Prokura und war selbst nach seinem Tod so etwas wie die graue Eminenz im Unternehmen. Sie starb 1997. Ältere Fuldaer erinnern sich noch an eine kleine, höchst interessierte Dame, die bei den Abonnement-Konzerten im Stadtschloss immer in der ersten Reihe saß.[15]

Grabstein „Anna-Maria Wolff“ (a. Anne Marie) in Fulda, Archiv S. Mott

 

[1] Silver, Daniel B.: Überleben in der Hölle, Das Berliner Jüdische Krankenhaus im „Dritten Reich“, Verlag für Berlin-Brandenburg 2009.
[2] Gruner, Wolf: Judenverfolgung in Berlin 1933-1945, Eine Chronologie der Behördenmaßnahmen in der Reichshauptstadt, hrsg. von der Stiftung Topographie des Terrors, Berlin 2009, S.110.
[3] Ebd. S. 111.
[4] Die Nürnberger Gesetze, in: Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Bd.9, Weimarer Republik und Drittes Reich 1918-1945, hrsg.v. Heinz Hürten, Philipp Reclam Junior, Stuttgart 1995.
[5] Ablichtung eines Briefs des Vorsitzenden des Kuratoriums des Diakonissenmutterhauses Königin Elisabeth-Hospital, Historisches Archiv, Evangelische Krankenhaus, Königin Elisabeth Herzberge.
[6]  Ebd., Ablichtung des Bescheids, Der Reichs- und Preußische Minister des Inneren, 23. April 1937.
[7] E-Mail Auskunft an die Autorin durch Frau Dr. Barbara Bauer-Formiconi am 23.08.2015.
[8] Ebd.
[9] Berliner Adressbuch, Ausgabe 1938.
[10] S.o. E-Mail Bauer-Formiconi.
[11] Sabine Weyl, https://berlingeschichte.de/bms/bmstxt97/9711gesd.htm.
[12]Martha Liebermann, Lebensbilder, hrsg. von Martin Faas, Max-Liebermann-Veranstaltungs GmbH, Berlin 2007.
[13] https://www.legacy.com/us/obituaries/cjonline/name/elisabeth-collins-obituary?id=22176279.
[14] W. Brednow, In memoriam Walter Wolff, in: Medizinische Klinik, Nr.31, 1958.
[15] Persönliche Auskunft Rudi Möller Fulda.