Eine Frau steht links nebe einer großen Vase und blickt in die Kamera. Rechts im Bild ist ein großes Gemälde mit einem Frauenkopf abgebildet.
Dora at Dorich in 1939, © National Monuments Record, English Heritage, Swindon.

Dora Gordine (1895?-1991)

26.8.2021 von Jonathan Black

Über das Leben und Werk der Bildhauerin Dora Gordine

Dora wurde als Dora Gordin in der westlettischen Hafenstadt Libau/Liepaja/Libava geboren, in welcher eine große deutschsprachige jüdische Minderheit lebte. Zu dieser Zeit war Lettland eine Provinz innerhalb des Russischen Reiches von Zar Nikolaus II. Sie wurde in eine säkulare, wohlhabende jüdische Mittelschichtfamilie hineingeboren, ihr Vater Mark war Bauunternehmer und Bauträger. Dora besuchte die örtliche Mädchenschule, welche Deutschland als Maßstab für pädagogische Exzellenz betrachtete – war doch die ostpreußische Großstadt Königsburg nur etwa zwei Bahnstunden von Libau entfernt. Dora wurde zu einer Liebhaberin der deutschen Literatur und Musik erzogen. So kam es, dass sie im späteren Leben eine begeisterte Leserin der Bücher von Thomas Mann war und die Musik von Richard Strauss und Gustav Mahler liebte.

Eine Frau steht links nebe einer großen Vase und blickt in die Kamera. Rechts im Bild ist ein großes Gemälde mit einem Frauenkopf abgebildet.

Dora at Dorich in 1939, © National Monuments Record, English Heritage, Swindon

1912 zog die Familie Gordin nach Reval/Tallinn in Estland, da der Vater lukrative Aufträge zur Entwicklung des Hafenviertels der kaiserlich-russischen Marine erhalten hatte. Über Doras Leben während des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolution weiß man heute nicht viel; sie scheint einen Teil der Jahre 1914-16 mit dem Studium der Bildhauerei in St. Petersburg und in Helsinki verbracht zu haben. Man vermutet jedoch, dass sie mit ihrer Mutter, ihrem älteren Bruder Leopold und ihrer älteren Schwester Anna in Tallinn lebte, als die Stadt die meiste Zeit des Jahres 1918 von der kaiserlichen deutschen Armee besetzt war. Nach dem Waffenstillstand vom November 1918 evakuierte die deutsche Armee Tallinn und das entstandene Machtvakuum wurde durch eine Kombination aus estnischen Nationalisten und Matrosen der Royal Navy gefüllt.

In den Jahren 1919-1920 arbeitete Dora eine Weile für das neue estnische Kulturministerium und unterrichtete auch an einer örtlichen Kunstschule für jüdische Studierende. Im Herbst 1924 hielt sie sich für zwei bis drei Monate in Berlin auf und zog dann in ein Studentenwohnheim am Boulevard Raspail in Paris. Als „Dora Gordine“ begann sie, Arbeiten in Gips und Bronze im Nationalsalon und im kürzlich gegründeten Salon des Tuileries auszustellen. Sie entwickelte sich als eine Art Protegé und Schülerin des damals größten lebenden französischen Bildhauers Aristide Maillol. Dora fertigte feinfühlige Porträtköpfe in reduzierter neoklassizistischer Manier an, die klar von Maillol und seinem Zeitgenossen Despiau inspiriert wurden. Dazu gehört zum Beispiel „Head of a Chinese Man“ – später auch bekannt als „The Chinese Philosopher“ (nicht zufällig waren Maillol und Despiau beide Gründungsmitglieder des Salons des Tuileries, wo Dora von 1925 bis Ende der 1930er Jahre regelmäßig ausstellte).

Eine Skulptur eines Kopfs.

Dora Gordine, Chinese Head, Head of a Philospher, 1925-26, © 2021 Dorich House Museum

Doch Dora sollte die erste Einzelausstellung ihrer Skulpturen nicht in Paris, sondern in London bekommen: Diese ereignete sich im September-Oktober 1928 in den renommierten Leicester Galleries. Zufällig überschnitt sich Doras Ausstellung mit der ersten großen Ausstellung von Maillol in London, welche in der Goupil Gallery in der Regent Street stattfand. Es ist möglich, dass der große deutsche Galerist Alfred Flechtheim (1878-1937) Doras Ausstellung sah, als er in London war, um eigentlich die Ausstellung von Maillol zu besuchen, den er seit 1924 in Deutschland vertreten hatte. Tatsächlich wurde Maillols Ausstellung nach Abschluss in London im November 1928 in die Galerie Flechtheim in Berlin verlegt.

Ende 1928 lud Flechtheim Dora während eines London-Besuchs dazu ein, etwa ein Jahr später eine Ausstellung in seiner Galerie in Berlin abzuhalten. Wahrscheinlich vermutete er, dass ihre „tetes ethniques“ – Porträts würdevoller, in sich geschlossener nicht-westlicher Motive – Statuetten und lebensgroße Aktfiguren wie der männliche Torso in französischer neoklassizistischer Manier bei einem anspruchsvollen deutschen Publikum gut ankommen würden. Flechtheim setzte sich zu dieser Zeit für die Arbeit deutscher Bildhauer ein, die Maillol und Despiau bewunderten, wie beispielsweise Arno Breker (der später im Februar 1935 Liebermanns Totenmaske anfertigte) und Georg Kolbe.

Zwischen dem 18. September und 10. Oktober 1929 stellte Gordine 16 Bronzen in der Galerie Flechtheim am Lützowufer 13 in Berlin aus. Sie teilte sich die Galerie mit zwei jungen deutschen zeitgenössischen Malern, Fritz Kronenberg (1901-1960) und Paul Strecker (1898-1950). Strecker wurde in München ausgebildet und zog 1924 nach Paris. Kronenberg wurde in Köln geboren, malte im kubistischen Stil und zog ein Jahr später, 1925, nach Paris. Von Anfang 1927 bis Mitte 1929 reiste Kronenberg nach Ägypten, Indien, Java und Bali. Mitte der 1930er Jahre wurde sein Werk von den NS-Behörden als „entartet“ verurteilt, 1938 emigrierte er nach Brasilien und kehrte erst 1953 nach Deutschland zurück.

Insgesamt war die Reaktion der Berliner Kritiker auf Doras Werk überwältigend positiv. Hugo Kubsch beschrieb Gordine in der Deutschen Tageszeitung (20. September 1929) als: „ein ganz besonderes Talent … sie hat ein ausgeprägtes Gespür für taktile Formen … was sich besonders in ihren Porträtköpfen bemerkbar macht … Sie scheint am meisten vom Mongolischen und anderen exotische Figuren inspiriert zu sein. Ihre Form ist ruhig, fast klassisch und ihre schönen Gesichtszüge sind leicht übertrieben, ohne ihre wesentliche Wahrheit zu schwächen. „The Chinese Head“, „Woman from Guadeloupe“, „The Green Head“ … sind zweifellos skulpturale Meisterwerke, die sowohl durch ihre ruhige Schönheit als auch durch ihre technische Perfektion beeindrucken …’. In der modischen BZ am Mittag (23. September 1929) wurde der Kritiker Maw Deri von den von Doras ethnischen Köpfen vorgeschlagenen „exotischen Seelen“ angezogen.Während „Mund und Nase Lebendigkeit ausstrahlen … erzeugt die skulpturale Form insgesamt eine suggestive Atmosphäre.“ Die Art und Weise, wie einige der Köpfe im Halbschlaf aussehen, „erzeugt einen fast ägyptischen Eindruck von Abgeschiedenheit.“

Die Kritik der Germania (24. September 1929) erklärte atemlos, Doras Skulptur zähle: „zu den besten, die in den letzten Jahren von Menschenhand geschaffen wurden.“ Ihre Skulptur verbinde „spirituelle Sensibilität und sinnliche Gestaltung“. Darüber hinaus strahlten „Individualität und Persönlichkeit“ aus Werken wie: „Female African Head“, „Chinese Woman“, „Breton Woman“ und „The pummel-faced child“ mit dem „bezauberndem, unbekümmertem Lächeln.“ Der männliche Torso, schlank und schön, und die Tänzerin („Javanese Dancer“) mit weichen, voluminösen Linien und der Korpulenz eines Maillols lassen vermuten, wie komplex ihr skulpturales Talent ist.“

Skulptur einer nacken Frau, die eine tanzende Pose hält.

Dora Gordine, Javanese Dancer, 1927-28, ©2021 Dorich House Museum

Anscheinend wurde Doras Ausstellung von Max Liebermanns alter Bekannten, der bedeutenden Bildhauerin Käthe Kollwitz, besucht; gegenüber einem anwesenden Journalisten bemerkte sie, Dora scheine sich am wohlsten darin zu fühlen, das „Exotische und Orientalische“ heraufzubeschwören.

Zwischen dem 15. November und dem 23. Dezember 1929 stellte Gordine vierzehn ihrer Bronzen in der Galerie Flechtheim in Düsseldorf aus. Sie teilte die Galerie mit einem Baltisch-deutscher Pastellkünstler namens Otto von Wätjen, dem Ex-Ehemann der modischen französischen Malerin Marie Laurencin (1886-1956). Doras Ausstellung in der Berliner Galerie Flechtheim erwies sich als so erfolgreich, dass sie die Zahlung für ein Maison-Atelier beginnen konnte, das der hochmodische französische Modernistarchitekt Auguste Perret für sie baute im südwestlichen Pariser Vorort Boulogne-Billancourt (das Gebäude in der Rue du Belvédère wurde im Frühjahr 1930 fertiggestellt). Sie konnte sich auch eine komfortable Kabine auf einem Linienschiff leisten, das sie Ende Dezember 1929 nach Singapur brachte. Dort machte sie sich auf die Suche nach einem prestigeträchtigen Auftrag der britischen Kolonialbehörden, welchen sie sich im Herbst 1930 sicherte.

Dora scheint nach 1929 nicht nach Berlin zurückgekehrt zu sein; Sie verbrachte einen Großteil der 1930-35 Jahre damit, in Singapur und im südmalaiischen Bundesstaat Johor zu leben und Südostasien zu erkunden. Mitte 1935 verließ sie Singapur, ließ sich von ihrem englischen Ehemann (einen Arzt, den sie im September 1930 geheiratet hatte) scheiden und ließ sich in London nieder – wo sie im November 1936 ihren dritten Ehemann, einen anglo-irischen Aristokraten, den Honourable Richard Hare (1906-1966) heiratete. Er war es auch, der den Bau von Doras neuem Studio-Haus, das sie entworfen hatte, in Kingston Vale bezahlte: Das „Dorich House“ ist heute ein Museum im Besitz der Kingston University.

Schwarzweißfoto einer großen modernen Villa.

Dora and Richard, Dorich House, 1937, ©2021 Dorich House Museum

Flechtheim wurde kurz nach der Machtübernahme Hitlers im Januar 1933 von den Nazi-Behörden enteignet. Im November 1933 flüchtete er nach London und versuchte dort eine neue Kunstgalerie zu eröffnen. Es scheint, dass Dora und ihr einflussreicher und wohlhabender Schwager, der Earl of Listowel, versuchten, Flechtheim finanziell zu helfen. Sein Geschäft in der Cork Street scheiterte jedoch, und Flechtheim starb Anfang März 1937 in London an einer Sepsis (siehe The Times, 10. März 1937, S. 16).