Fotoporträt eines Mannes mit Schnauzer und Kinnbart, der in einem Buch liest.
Abb. 1 Der Maler Emil Orlik, Photographie von Nicola Perscheid, vor 1905, Leipzig

Emil Orlik

18.5.2022 von Dr. Birgit Ahrens

Ein Böhme in Berlin

Die noch bis 6. Juni 2022 laufende Sonderausstellung „Schwarz-Weiß. Liebermanns Druckgrafik“ zeigt eine bislang wenig beachtete künstlerische Seite Max Liebermanns. Nicht nur er beschäftigte sich intensiv mit den druckgrafischen Verfahren auch sein Künstlerkollege Emil Orlik widmete sich ausführlich der Druckgrafik. Im Folgenden beschreibt die Kunsthistorikerin Dr. Birgit Ahrens sein durch zahlreiche Reisen geprägtes bewegtes Leben und beleuchtet auch die Einflüsse der Reisen auf Orliks Werk. Birgit Ahrens verfasst derzeit ein vierbändiges Werkverzeichnis der Druckgrafik zu Emil Orlik, welches im Deutschen Kunstverlag Berlin erscheinen wird.

Fotoporträt eines Mannes mit Schnauzer und Kinnbart, der in einem Buch liest.

Abb. 1 Der Maler Emil Orlik, Photographie von Nicola Perscheid, vor 1905, Leipzig

Das Portraitphoto (Abb.1) zeigt einen elegant gekleideten jungen Herrn mit Spitzbart um die 30, der interessiert in einem Bilderalbum blättert. Der Photograph Nicola Perscheid (1864─1930) hatte es wohl in seinem Atelier in der Gellertstraße 2 in Leipzig aufgenommen. Der Dargestellte ist der Maler und Graphiker Emil Orlik (1870 ─1932), der möglicherweise durch die Vermittlung von Max Klinger (1857 ─1920) mit Perscheid in Kontakt kam. Denn 1902 hatte Orlik das Portrait Klingers in zwei Radierungen festgehalten, wobei  „Max Klinger bei der Arbeit“ (Abb. 2) nach einer in Leipzig angefertigten Zeichnung entstand.

Porträt eines Manners mit Bart, kleiner runder Brille sowie Kopfbedeckung, der mit einem Hammer etwas anschlägt.

Abb. 2 Emil Orlik, Max Klinger bei der Arbeit, Kaltnadel, Roulette in Rotbraun, 1902

Diese Bezüge legen die Vermutung nahe, dass die Photographie 1902 entstanden sein könnte. Im Jahr 1902 fand auch die berühmt gewordene XIV. Ausstellung der Wiener Secession zu Ehren von Max Klingers Beethovenstatue statt, die als Gesamtkunstwerk geplant, Skulptur, Malerei und Graphik als Teil der Raumkunst inszenierte. Orlik war mit zwei Holzschnitten und einem Intarsienbild in der Ausstellung vertreten.

Der junge Künstler in Japan

Emil Orlik lebte 1902 in Prag, arbeitete in einem Turmatelier im Prager Vorort Königliche Weinberge und hatte als 32-jähriger bereits ein umfangreiches, vielgestaltiges Œuvre geschaffen. Als Maler, Graphiker, Zeichner, Buchgestalter, Exlibris- und Plakatkünstler war er in Erscheinung getreten und konnte schon 1900, in einer ersten Einzelausstellung im Maehrischen Gewerbe-Museum in Brünn, 310 Exponate präsentieren. Außerdem war er in diesem jugendlichen Alter schon ein weitgereister Mann, der  England, Schottland, die Niederlande, Belgien und Frankreich besucht hatte. Im März 1900 brach er dann zu einer Reise auf, die ihn von Wien nach Genua per Schiff über Neapel nach Port Said, durch den Suezkanal nach Aden, Colombo, Hongkong und nach Japan führen sollte.

Es war sein Interesse am Holzschnitt bzw. Farbholzschnitt, eine Technik, in der er sich schon 1896 gemeinsam mit Bernhard Pankok in München versuchte hatte, die ihn nicht mehr losließ. Im Rückblick schrieb er 1901: „Lange Zeit, bevor ich an die Möglichkeit denken konnte, eine Reise nach Japan zu unternehmen, führte mich die Phantasie dorthin. Als ich aber zum Holzschnitt kam, zur schwarzen Platte farbige gesellte und der Arbeitsweise der Japaner (Abb. 3) in diesen Versuchen nachspürte ─ da wurde der Wunsch zur Begierde: hinüberzufahren und die seltene Kunst und Technik an Ort und Stelle zu studieren. So bin ich anfangs 1900 auf die Wanderschaft gegangen und habe bei Holzschneidern und Druckern wie ein Geselle sein Handwerk gelernt.“

Farbiger Druck drei Japanischer Männer, die von links nach rechts malen, holzschneiden und drucken

Abb. 3 Maler, Holzschneider, Drucker in Japan, Chromophotolithographie nach Farbholzschnitten, 1901

Die Früchte der Japanreise

Der Ertrag der Reise mit Holzschnitten, Radierungen, Lithographien und Pastellen stellt künstlerisch im Werk von Orlik einen Höhepunkt dar. So war er nach seiner Rückkehr aus Japan ein gefragter Mann, der zum „Wanderapostel des modernen Holzschnitts“ avancierte und seine japanischen Arbeiten in Ausstellungen in Berlin, Dresden, Wien und Brünn präsentierte. Er hielt Vorträge mit Lichtbildern über Kunst und Kultur in Japan und verfasste einen Aufsatz „Anmerkungen über den Farbenholzschnitt in Japan 1900“, der 1902 in der Zeitschrift Die Graphischen Künste veröffentlicht wurde. Seit 1899 war Orlik Mitglied der Wiener Secession, einer avantgardistischen Vereinigung Bildender Künstler Österreichs, die sich vom vorherrschenden, am Historismus ausgerichteten, konservativen Akademiebetrieb lossagte, um neue künstlerische Wege zu beschreiten. Mitbegründer und Erster Präsident der Vereinigung war Gustav Klimt.

Sein frühes Schaffen

Wien war um 1900 eine pulsierende Metropole, die viele Talente aus allen Bereichen der Kunst anzog. So auch Orlik, der im böhmischen Prag der Österreich-Ungarischen Monarchie geboren wurde. Er wuchs als deutschsprechender Jude mit humanistischer Schulbildung auf und war das siebte von zehn Kindern eines Schneidermeisters. Schon früh war es sein Wunsch Maler zu werden und so begann er 1891 ein Studium der Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in München bei Wilhelm von Lindenschmit d. J. Daneben besuchte er die Radierschule von Johann Leonhard Raab, gab sich aber mit der traditionellen Ausbildung nicht zufrieden, sondern experimentierte mit Aquatinta und Kaltnadel. Versuche, die Raab, im Bann der Tradition verhaftet, nicht geübt wissen wollte. 1893 brach er das Studium ohne Diplom ab und kehrte nach Prag zurück. Dort schloss er sich dem Verein Deutscher Bildender Künstler in Böhmen an und entwarf 1895 und 1897 seine ersten Plakate für deren Ausstellungen, an denen er auch bis 1914 teilnahm. Er schloss Freundschaft mit René Maria Rilke, der 1899 einen Aufsatz „Ein Prager Künstler“ über Orlik schrieb, welcher 1900 in der Zeitschrift der Wiener Secession Ver Sacrum erschien.

Sein Weg nach Berlin

Der junge Künstler auf dem Photo von Perscheid hatte also schon einiges geleistet, als ihn 1904 der Ruf nach Berlin erreichte, als Lehrer und Nachfolger von Otto Eckmann an der Staatlichen Unterrichtsanstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums die Graphik-Klasse zu übernehmen. Verbindungen nach Berlin gab es schon vor dem Beginn seiner Lehrtätigkeit. Bereits 1897 hatte Orlik im Auftrag von Max Reinhardt, dem damaligen Schauspieler und späteren Regisseur und Theaterleiter, ein Plakat für eine öffentliche Lesung von Gerhart Hauptmanns (1962 ─1946) Die Weber (Abb. 4) durch Max Reinhardt entworfen.

Schwarz-Weiß Plakat im Querformat mit mehren Gesichtern auf der unteren Bildhälfte. Auf der oberen Bildhälfte in großen Buchstaben „Die Weber. von G. Hauptmann“

Abb. 4 Emil Orlik, Plakat, Die Weber, Kreidelithographie, 1897

In einem Brief aus Berlin vom 23. August 1897 nahm Orlik mit Hauptmann Kontakt auf, um ihm den ersten Druck seines Plakats zu schicken. Nur ein halber Tag war nötig, um das  Motiv direkt auf zwei Steine zu zeichnen und zu drucken. „Es ist eine ehrliche Arbeit, spontan geschaffen in der Begeisterung für Ihre ‹Weber›.“ Er unterschrieb mit Emil Orlik Malerradirer. Aus diesem ersten Kontakt erwuchs eine lebenslange Freundschaft, die viele Hauptmann-Portraits (Abb. 5) zur Folge hatte.

Porträt eines Mannes der aus dem rechten Bildrand blickt. Der Kopf ist realistisch und detailliert ausgeführt, die Kleidung vom Oberkörper nur angedeutet.

Abb. 5 Portrait Gerhart Hauptmann, Kaltnadel, Mezzotinto, Roulette, Polierstahl auf Chine-collé rosé, 1909

Bereits 1898 hatte Orlik an einer Ausstellung mit Künstler-Lithographien im Lichthof des Kunstgewerbemuseums teilgenommen, vermutlich wurde hier schon das Weber-Plakat ausgestellt. Es folgte 1901 eine Ausstellungsbeteiligung im Kunstsalon Cassirer und 1901/02 nahm er an der Vierten Ausstellung der Berliner Secession teil. Zu diesem Zeitpunkt war er noch Korrespondierendes Mitglied der Secession, ab 1908 dann Ordentliches Mitglied. Seine Adresse im Mitgliederverzeichnis lautete: Orlik, Emil, Prof., Maler, Berlin SW, Kunstgewerbemuseum, Prinz Albrechtstrasse. Seit 1898 korrespondierte Orlik mit seinem Entdecker und Förderer, dem Kunsthistoriker Max Lehrs (1855─1938), (Abb. 6) der zu dieser Zeit Assistent am Kupferstichkabinett Dresden war und dort, während seiner Amtszeit, mit der planmäßigen Erwerbung zeitgenössischer Graphik begann.

Gedrucktes Porträt eines Mannes mit Bart, der direkt anblickt. Er trägt Krawatte und Jackett. Der Hintergrund ist leer.

Abb. 6 Emil Orlik, Portrait Max Lehrs, Kaltnadel, 1917

Wie Orlik erhielt auch Lehrs 1905 einen Ruf nach Berlin als Direktor des Königlichen Kupferstichkabinetts. Am 19. Dezember 1904 schrieb Orlik aus Wien an Lehrs: „Lieber Herr Geheimrat! […] Zuvörderst zur Einwanderung nach Berlin meine herzlichsten Wünsche: […] Die Übersiedlung nach Berlin finde ich aus egoistischen Gründen für mich wie vereinbart: denn am 1. April 1905 trete ich an die Stelle von Prof. O. Eckmann, um eine Schule für alle Gebiete der Grafik zu begründen.“ Wie in Dresden setzte Lehrs auch in Berlin das systematische Sammeln von zeitgenössischer Graphik fort und so war Orlik in beiden Kabinetten umfangreich vertreten. Schon 1901 übermittelte Orlik anlässlich seines Berlin-Aufenthalts Grüße von Lehrs an Wilhelm von Bode, Generaldirektor der staatlichen Kunstsammlungen Berlin, an Peter Jessen, Direktor der Kunstbibliothek und Max Liebermann, den Präsidenten der Berliner Secession. In das von Lehrs gespannte Netzwerk wurde auch Orlik aufgenommen und es ist zu vermuten, dass hier Orliks Fürsprecher auf die Stelle am Kunstgewerbemuseum zu suchen sind.

Zwischen Lehre und Theater

In den 27 Jahren, in denen Orlik bis 1932 als Lehrer tätig war, zählten u. a. George Grosz, Hannah Höch, Karl Hubbuch, Grete Schmedes, Charlotte Rollins und viele andere zu seinen Schülern. Er war wohl der begehrteste Hochschullehrer Berlins, der jeden Schüler seinen Fähigkeiten entsprechend zu fördern wusste, ohne ihm bestimmte Entscheidungen aufzudrängen. Er hatte eine intuitive Menschenkenntnis, blieb aber trotz aller Aufgeschlossenheit auf Distanz und war nicht zu durchschauen. Auch der Reiz des Fremden, eines weitgereisten und welterfahrenen Mannes umwehte seine Persönlichkeit. Neben Lehr- und Ausstellungstätigkeit begann Orlik auch für das Theater Max Reinhardts zu arbeiten. Er entwarf u. a. Bühnenbilder und Kostüme für die Shakespeare-Inszenierungen Der Kaufmann von Venedig (1905) und Das Wintermärchen (1906) am Deutschen Theater und war gleichzeitig als Außerordentlicher Dozent an der Schauspielschule des Deutschen Theaters tätig. Mit vielen Schauspielern, wie Alexander Moissi, Käthe Dorsch, Elisabeth Bergner, Fritz Kortner, Max Pallenberg, Gertrud Eysoldt u. a. war er bekannt und hielt deren Portraits bzw. Rollenportraits fest. Für die Schauspielerin und zweite Frau Paul Cassirers, Tilla Durieux, entwarf Orlik Kostüme, lithographierte und radierte ihr eindrucksvolles Portrait u.a. für die Buchpublikation Spielen und Träumen von 1922. Aber auch Literaten, Künstler, Politiker, Wissenschaftler, Journalisten und Persönlichkeiten aus der Wirtschaft portraitierte Orlik und war oft mit ihnen freundschaftlich verbunden. Er war ein Gesellschaftsmensch, umtriebig, aufgeschlossen und ruhelos, manchmal bis zur Erschöpfung. Der Junggeselle ließ keinen Ball, kein Kostümfest, keine Premiere, Galadiner oder Stammtisch aus und so kursierte 1918 folgende Anekdote: „Ich stehe unter den Linden. Da kommt ein Auto. Wer sitzt drin? Richard Strauß, Max Reinhardt und Orlik… Doch wie ich mich umdrehe, da kommt von der anderen Seite wieder ein Auto… Wer sitzt drin? Hindenburg, Ludendorff und Orlik…“

Ein hochgeschätzter Künstler und Lehrer

Als Portraitist war er gefragt und anerkannt, aber auch in den angewandten Künsten vermehrte er vielseitig seinen Ruhm. Zur Gebrauchsgraphik kamen Entwürfe für Tapeten, Stoffe, Fächer und Papier hinzu. Es entstanden Skulpturen und Bronzeplaketten für seinen Vater Moritz Orlik, den Mäzen aus Wiener Tagen Max von Gomperz, Max Slevogt und 1922 zu Ehren von Max Liebermanns 75. Geburtstag. In Anerkennung seiner Leistungen als Künstler und Lehrer wurde Orlik 1922 zum Mitglied der Preußischen Akademie der Künste gewählt. Orlik bezeichnete sich selbst als „Vielgewanderter“ und „Vielversuchter“, der sich in steter Arbeit immer als Lernender gesehen hatte. (Abb. 7)

Zeichnung eines Mannes im linken Seitenprofil, im Hintergrund mehrere angedeutete Gesichter und Erscheinungen mit Masken

Abb. 7 Emil Orlik, Selbstbildnis mit Visionen, Kreidelithographie, 1930

Als Orlik am 28. September 1932 im Franziskuskrankenhaus in Berlin in Gegenwart seines Arztes Dr. Janos Plesch starb, waren seine letzten Worte „Wird’s bald!“. Die Trauerfeier im Krematorium Wilmersdorf fand unter großer Beteiligung der Öffentlichkeit statt, neben Familie, Freunden und Schülern kamen auch Prominente wie Albert Einstein, Fritzi Massary oder Reichstagspräsident Paul Loebe, die dem Verstorbenen die letzte Ehre erwiesen. Die Urne wurde von der Familie nach Prag überführt und im Urnenhain des Krematoriums Strašnice bestattet. Auf der Urne war zu lesen: „Prof. Emil Orlik Mitglied d. Akad. d. Künste 1870─1932“.