1954/2/7 - Gertrud Simon: Portraits

Gerty’s London Subjects

27.7.2021 von Barbara Warnock

Künstlerinnen im Britischen Exil

Zwischen 1933 und 1945 wurden tausende Künstlerinnen ins Exil gezwungen, um sich vor den Gefahren des wachsenden Nationalsozialismus retten zu können. Bis heute hinterlässt dies deutliche Spuren in der Kulturgeschichte, so sind viele der damals bekannten kunstschaffenden Persönlichkeiten in Vergessenheit geraten. Auch Gerty Simon (1887-1970), eine deutsch-jüdische Porträtfotografin, die in den 1920er Jahren in Berlin lebte und arbeitete. 1933 emigrierte sie nach London, wo sie ihre Karriere weiterführen konnte. Silbergelatineabzüge ihres Werks sowie akribisch gesammelte Presseauschnitte, Einladungen und Visitenkarten fand die Wiener Holocaust Library im Jahr 2016 im Nachlass des britischen Geschäftsmannes Bernd Simon — dem Sohn Gerty Simons. Auf die von der Wiener Holocaust Library veranstaltete Ausstellung „Berlin/London: The Lost Photographs“ aus dem Jahr 2019 antwortet nun die Liebermann-Villa am Wannsee mit ihrer Sonderausstellung „Gerty Simon. Berlin / London. Eine Fotografin im Exil“.

Im Rahmen dieser Ausstellung ruft die Liebermann-Villa eine fünfteilige Blogreihe ins Leben, welche das Leben und Werk von fünf verschiedenen Künstlerinnen vorstellen möchte, die zu Zeiten des Nationalsozialismus aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Die Künstlerinnen widmeten sich in ihrer Arbeit verschiedenen Medien: Fotografie, Bildhauerei, Grafik und Keramik. Doch was sie verbindet ist, dass sie alle nach Großbritannien emigrierten, um dort ihre Karrieren weiterzuführen und sich ihre Freiheit über ein selbstbestimmtes, kreatives Leben bewahren zu können.

Gerty’s London Subjects

Gerty Simon kam im Herbst 1933 als Exilantin aus Berlin nach London. Nachdem sie Nazi-Deutschland verlassen hatte, sagte sie selbst später: „Ich befand mich als Jüdin in besonderer Gefahr, weil ich als Fotografin zahlreiche Aufnahmen von sozialdemokratischen und antifaschistischen Persönlichkeiten angefertigt und diese in der Öffentlichkeit ausgestellt hatte“.

Gerty Simon, Lotte Lenya (1898-1985), London, ca. 1935, Sängerin und Schauspielerin, © The Bernard Simon Collection, Wiener Holocaust Library Collections

Vor ihrer Ankunft in London scheint Simon einige Vorbereitungen getroffen zu haben, um ihre Karriere schnell wieder aufbauen zu können: so reiste sie unter anderem mit Presseausschnitten über ihre früheren Ausstellungen und mit diversen Exempeln ihrer Arbeit im Gepäck. Rasch richtete sich ein Studio in London ein und veranstaltete bemerkenswerterweise innerhalb eines Jahres nach ihrer Ankunft ihre erste Ausstellung fotografischer Porträts in der Storran Gallery in Chelsea. Zum einen scheint Simon es so schnell geschafft zu haben, Kunden zu gewinnen, weil ihr guter Ruf ihr vorausging, zum anderen waren aber auch ihre Verbindungen zu anderen Exilanten in London, sowie ihre eigenen Bemühungen um Eigenwerbung und Mundpropaganda für sie von Bedeutung.

In London repräsentierten Simons Modelle einen bemerkenswerten Querschnitt führender Persönlichkeiten aus Großbritanniens künstlerischer, theatraler, politischer und sozialer Welt. Wie in Berlin fotografierte Simon hier mindestens ebenso viele Frauen wie Männer.

Gerty Simon, Frank Dobson (1886-1963), London, ca. 1934, Künstler und Bildhauer, © The Bernard Simon Collection, Wiener Holocaust Library Collections

In London fotografierte sie auch andere Exilanten aus Deutschland, zu denen sie teilweise auch persönliche Beziehungen hegte, wie beispielsweise den Galeristen Alfred Flechtheim — welcher ihre zweite Londoner Ausstellung kuratierte — und die Schauspielerin Lotte Lenya.

Einige von Simons eindrucksvollsten Porträts aus ihrer Zeit in London zeigen Künstler*innen: Maler, Bildhauer und Grafiker wie Paul Nash, Iain Macnab, Frank Dobson, Sir William Rothenstein, Freda Lady Forres und die Bühnenbildnerin Gladys Calthorp. Laut der Zeitung The Daily Sketch „…gefiel Gerty Simon es, Maler zu fotografieren, weil diese genau verstanden, was sie in Bezug auf Komposition, Beleuchtung und Pose von ihnen möchte.“

Gerty Simon, Paul Nash (1889-1946), London, ca. 1934, Maler, Fotograf, Schriftsteller und Designer, Schlüsselfigur der Modernist Movement in England, © The Bernard Simon Collection, Wiener Holocaust Library Collections

Simon fotografierte des Weiteren die Royal Academy-Mitglieder Sir John Munnings und Sir John Lavery. Letzterer hielt die Eröffnungsrede ihrer zweiten Londoner Ausstellung Camera Portraits, die 1935 im Camera Club gezeigt wurde. Teil jener Ausstellung war auch ihre Fotografie des damaligen Direktors der National Gallery, Sir Kenneth Clark, der im Juni 1934 im Alter von nur 30 Jahren in seine Position berufen worden war.

Gerty Simon, Aneurin Bevan (1897-1960), London, ca. 1934, Politiker der Labour Party, u.a. Gesundheitsminister 1945-1951, © The Bernard Simon Collection, Wiener Holocaust Library Collections

Die Ausstellung Camera Portraits umfasste eine Reihe von Porträts von anderen Exilanten des Nationalsozialismus: darunter Flechtheim und Lenya, sowie der 1933 nach Großbritannien emigrierte Arzt Professor Ulrich Friedemann. Kurt Battsek, ebenfalls deutsch-jüdischer Herkunft, hatte ebenfalls für längere Zeit in Großbritannien gelebt. Er war der Londoner Vertreter des Berliner Hilfsvereins der deutschen Juden und sehr aktiv im Central British Fund for German Jewry, der Spenden sammelte, um Geflüchtete aus dem Nationalsozialismus zu unterstützen.

Gerty Simon, Constance Cummings (1910-2005), ca. 1934, Schauspielerin, © The Bernard Simon Collection, Wiener Holocaust Library Collections

Wie in Berlin fotografierte Simon auch in London Schauspieler*innen wie Peggy Ashcroft, Constance Cummings und Oriel Ross. Auch lichtete sie prominente Politiker*innen ab, darunter die Parlamentsabgeordneten Eheleute Aneurin Bevan und Jennie Lee. Lee wurde 1929 im Alter von 24 Jahren zur Labour-Abgeordneten von North Lanarkshire gewählt. Später spielte sie eine zentrale Rolle bei der Gründung der Open University. Aneurin Bevan, von 1929 bis 1960 Abgeordneter für Ebbe Vale, war von 1945 bis 1951 Gesundheitsminister und gilt als Gründer des National Health Service. Bevan setzte sich auch aktiv dafür ein, Geld zu sammeln, um deutsche Geflüchtete zu unterstützen. Ähnlich taten es auch die Schauspielerin Constance Cummings und ihr Ehemann, der Labour-Abgeordnete Ben Levy. Das Paar nahm später zwei Kinder aus dem Kindertransportprogramm auf, welches jüdische Kinder schützte, die von Nazi-Deutschland bedroht wurden.

Simon fotografierte während ihrer Zeit in London auch viele Mitglieder des Adels. Unter ihren Modellen war der konservative und unionistische Politiker Lord Balniel, sowie Lord Forres, Lord Sempill und Lady Allington. Aristokratische oder gesellschaftliche Frauen, Vertreterinnen der “Mode”, so T.W. Earp des Daily Telegraph, gehörten auch zu Simons Modellen, darunter Violet Kingcote, June de Trafford, Lady Katherine Rollo, Princess de Chimay, Veronica Fitzgerald, Nemone Balfour und Jennifer Fry. Andere von Gerty Simon fotografierte Persönlichkeiten waren General Sir Hubert Gough, Kommandant der 5. Armee 1916-1918; Sheila Grant Duff, Journalistin und spätere Gegnerin der Bauernpolitik; Ökonom Sir George Paish; und die Flieger Eric Gordon England und Lord Sempill.

Gerty Simon, Lucy Moser, London, ca. 1935, © The Bernard Simon Collection, Wiener Holocaust Library Collections

Einzelne Fotografien stechen hervor: Das von Lucy Moser beweist Simons Fähigkeit, bereits etablierte Künstlerpersönlichkeiten auf tiefgründige Weise zu porträtieren, wie es sich beispielsweise auch in Simons Berlin-Fotografien von Max Liebermann und Käthe Kollwitz widerspiegelt. Die Balletttänzerin und Choreografin Alicia Markova und ein unbekanntes Modell, das als „Spanierin“ bezeichnet wird, fesseln die Betrachtenden mit einem direkten, kompromisslosen Blick.

In ihren Londoner Porträts hat Gerty Simon ein starkes und unverwechselbares Werk geschaffen, das eine Reihe führender Persönlichkeiten der britischen Gesellschaft, Politik und Kultur einfängt. Ihre Arbeit in London spiegelte weiterhin den ausdrucksstarken Stil wider, den sie in Berlin entwickelt hatte. Dass Simon nach der Flucht aus Berlin ihre Karriere so schnell wieder aufbauen konnte, macht ihre Porträts umso bemerkenswerter.