Liebermanns „Altmännerhaus in Amsterdam“

10.5.2021 von Dr. Christofer Conrad

Von der Studie zum impressionistischen Meisterwerk

Im siebten Teil unserer Gastblogging-Reihe „Wir feiern Liebermann!“ stellt Dr. Christofer Conrad, Kurator für Malerei und Skulptur des 19. Jahrhunderts an der Staatsgalerie in Stuttgart, Liebermanns „Altmännerhaus in Amsterdam“ von 1880 vor. Im Folgenden vergleicht er die verschiedenen Fassungen, analysiert das Stuttgarter Gemälde bis ins kleinste Detail und verortet es in der Sammlung.

Ein Liebermann-Gemälde für das „Königliche Museum der bildenden Künste“ in Stuttgart

Die Komposition ist nicht leicht zu lesen: Eine dunkle Röhre leitet den Blick in die Tiefe des Bildraums. An ihrem Ende scheint gleißend hell das Tageslicht auf. Die wenigen anwesenden Männer verschwinden entweder nahezu im Schatten oder werden durch die Intensität des Sonnenlichts fast neutralisiert. Der enge Bildausschnitt und der intensive Hell-Dunkel-Kontrast machen den räumlichen Kontext nur schwer erschließbar. Die Funktion des Bildes ist bis heute unklar: Handelt es sich bei Liebermanns Altmännerhaus in Amsterdam (Abb. 1) um die Vorstudie für ein später im Atelier vollendetes Werk? Und welchen Status der Vollendung sprach man dem Bild bei seiner Erwerbung 1903 zu, als es aus der Sammlung des Züricher Seidenfabrikanten Karl Gustav Henneberg für das „Königliche Museum der bildenden Künste“, wie die Staatsgalerie Stuttgart damals hieß, erworben wurde?

Abb. 1: Max Liebermann, Altmännerhaus in Amsterdam, 1880. Öl auf Leinwand, 87,5 x 61,40 cm, Staatsgalerie Stuttgart, erworben 1903, zwangsweise getauscht 1937, zurückerworben 1953. Inv. Nr. 2421, Foto: © Staatsgalerie Stuttgart.

Liebermann findet sein Motiv im Spätsommer 1880 in Amsterdam: „Er hatte einen Freund im Rembrandthotel aufgesucht, und als er die Treppe hinabsteigend aus dem Flurfenster sah, fiel sein Blick hinunter in einen Garten, wo viele alte, schwarzgekleidete Männer in einem von Sonnenlicht übersäten Gange herumstanden und saßen […]. Er gebrauchte später, um jenen Augenblick zu charakterisieren, einen drastischen Vergleich: ,Es war, als ob jemand auf ebenem Wege vor sich hingeht und plötzlich auf eine Spiralfeder tritt, die ihn emporschnellt‘“

Variationen des Motivs

Der Garten, der Liebermanns künstlerische Phantasie derart schockartig aktiviert, ist der Hof des katholischen Brentanostifts, Nieuwe Herengracht/Binnenamstel. Vor Ort entstehen zwei gleichgroße hochformatige Studien in Öl (das Stuttgarter Bild) und Pastell, nach denen Liebermann im Winter 1880 in seinem Münchner Atelier das heute im Museum Georg Schäfer, Schweinfurt befindliche Bild malt. Während sich die beiden Studien kompositorisch nur geringfügig unterscheiden – in der Pastell-Version hat ein eleganter Besucher mit Zylinder und Spazierstock seinen Auftritt, der in dem Ölgemälde fehlt – ist das 1881 vollendete Bild ein vielfiguriges Querformat. Es nimmt die sitzenden und stehenden Heimbewohner und ihre Besucher nahsichtig und mit nahezu Menzelscher Gründlichkeit der dramaturgischen Durcharbeitung in den Blick. Die Sonne scheint durch die Kronen der Bäume und malt Lichtflecke auf den sandigen Boden, welche die strenge tiefenräumliche Gliederung des Raumes und die lastende Schwärze der Anstaltskleidung aufbrechen. Der offene, durchsonnte Raum scheint den plaudernden und rauchenden Männern eine Resonanzfläche für einen Moment der persönlichen Entfaltung zu bieten.

Raumkonzeption

Die Raumkonzeption der hochformatigen Studien und des Querformats könnte nicht unterschiedlicher sein. In dem Stuttgarter Gemälde bilden die durch gärtnerische Kunst verbundenen Kronen der schlanken Bäume einen tief verschatteten, tunnelartigen Raum. Er erinnert an die „Perspektiv“ genannten Laubengänge in Lustgärten des 18. Jahrhundert, an deren Ende eine illusionistisch gestaltete und kunstvoll beleuchtete Wandmalerei den Ausblick in eine weite Landschaft suggeriert (Abb. 2).

Abb. 2: Schwetzingen, Schlossgarten, Perspektiv, „Ende der Welt“, Foto Berthold Werner, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schwetzingen_BW_2014-07-24_11-12-09_pp.jpg

Im Unterschied zu diesen theatralischen Gartenkunstwerken der Aufklärung wird der Blick in Liebermanns Stuttgarter Gemälde durch eine hell erleuchtete Hauswand verstellt, die das Sonnenlicht in stark reduzierter und gemilderter Intensität in die Schattenzone davor reflektiert. Die Heimbewohner – es sind nur vier und nicht, wie im späteren Querformat, über 20 – verlieren sich fast in dem verschatteten Ambiente. Sie scheinen in der Laube selbstverloren vor sich hinzudämmern. Raum und Zeit verschmelzen zu richtungsloser Einheit.

Natur und Architektur

Das theatralische Pathos des hohen Gewölberaums, der Natur und Architektur, klare Räumlichkeit und Transparenz miteinander verbindet, formuliert Liebermann zunächst mit zeichnerischen Mitteln: Die schlanken Stämme der Baumreihe und die sie stabilisierende Gitterkonstruktion basieren auf dünnen Linien schwarzer Farbe, ebenso wie die Einfriedung des Weges aus weißen Steinplatten, deren Fugen wichtige Tiefenleiter markieren. Sie wirken wie kalligraphische Tuschpinselzeichen. Grüntöne unterschiedlicher Dichte und Helligkeit suggerieren die Eigenfarbigkeit von Stämmen und Laub. Im Bogenscheitel der Laube erzeugt das Ineinander kurzer, flächenhafter Farbzeichen und die Raumtiefe erschließender Linien ein lichtvolles durchscheinendes Netz, das zugleich statisch und dynamisch wirkt.

Der Bogen am Ende des Ganges, aber auch die kurzen Abstände zwischen den Bäumen links geben Details der sonnenbeschienenen Hauswand des Brentanostifts frei, besonders die dunkel lackierte Eingangstür mit kunstvoll vergittertem Oberlicht und verglaster Laterne. Zur Steigerung des Kontrastes zwischen verschatteten und beleuchteten Bereichen setzt Liebermann auf die Mittel der Malerei: Strahlend weiße, kaum abschattierte Pinselzüge definieren Flächen und Profile. Weißhöhungen markieren die Reflexion des Sonnenlichts auf den dunkel lackierten Metall- und Holzelementen. Auch um die stehenden und sitzenden Bewohner legen sich Konturen aus Licht, das auch die Schirme ihrer Mützen aufblitzen lässt. Die klein gesehenen Heimbewohner steigern die monumentale Wirkung des natürlichen Gewölbegangs. Ihre zeichnerisch verknappte Darstellung ist sicher auch dem Status des Bildes als Vorstudie zu dem späteren Querformat geschuldet.

Neben Pissarro und Monet

Mit der Erwerbung durch das königliche Museum der bildenden Künste geht eine Neubewertung des Bildes einher. Bereits 1901 war Camille Pissarros Spätwerk Der Gärtner (Abb. 3) in die Sammlung gelangt. 1906 folgt als Erwerbung des neu gegründeten Stuttgarter Galerievereins Claude Monets Felder im Frühling von 1887. Die drei Neuerwerbungen werden gemeinsam unter der Überschrift »Moderne Meister, Jüngere Meister des 19. Jahrhunderts« im selben Galerieraum präsentiert.

Abb. 3: Camille Pissarro, Der Gärtner (Le Jardinier, soleil d’après-midi, Éragny), 1899. Öl auf Leinwand. Staatsgalerie Stuttgart. Erworben 1901, Tausch 1937, Leihgabe Freunde der Staatsgalerie seit 1962. Inv. Nr. GVL 107, Foto: © Staatsgalerie Stuttgart.

Liebermann rückt damit zugleich in den Kreis der Impressionisten und der europäischen Avantgarde vor. Im Kontext der Arbeiten der berühmten französischen Kollegen wird sein Gemälde, das 1880 als eine von zwei Studien für das spätere Atelierbild entstand, als eigenständiges, vollendetes Kunstwerk wahrnehmbar. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es noch keinen Konsens darüber, ob die Werke der Impressionisten als vollendete, galerietaugliche Werke oder als Vorstudien anzusehen sind. Der vollständige Titel von Pissarros Gemälde lautet: „Jardinier, Soleil d’après-midi, Éragny“: „Gärtner, Nachmittagssonne, Éragny.“ Dieser Titel beschreibt, was das Bild einlöst: Der Garten in Éragny und die von hinten einfallende Spätnachmittagssonne sind die eigentlichen Protagonisten der Komposition. Wie die Heimbewohner in Liebermanns Bild ist der Gärtner nur mehr der anekdotische Anker für die malerische Vergegenwärtigung eines flüchtigen atmosphärischen Moments. Was spräche dagegen, Liebermanns Bild analog in „Altmännerhaus, Spätnachmittagssonne, Amsterdam“ umzubenennen?

Dr. Christofer Conrad arbeitet seit 2001 als Kurator für Malerei und Skulptur des 19. Jahrhunderts für die Staatsgalerie Stuttgart.