Martha Liebermanns Zug nach dem Westen
27.3.2023 von Sophia Mott
Gastbeitrag der Autorin Sophia Mott
In diesem Jahr jährte sich der Tod von Martha Liebermann zum 80. Mal. Dies nimmt die Autorin Sophia Mott zum Anlass, auf unserem Blog drei spannende Beiträge zu veröffentlichen. 2019 erschien ihr historischer Roman „Dem Paradies so fern. Martha Liebermann“ bei ebersbach&simon, der erst kürzlich verfilmt wurde. Im Zuge ihrer Recherchen sammelte sie einen enormen Schatz an bekannten und neuen Informationen. Eine Auswahl dieser Erkenntnisse stellt sie uns zur Publikation und Aufbewahrung im Rahmen von drei Blogbeiträgen zur Verfügung. Im ersten Beitrag beleuchtet Sophia Mott die verschiedenen Wohnorte von Martha Liebermann.
Der Zug nach dem Westen
Im Jahr 1886 veröffentlichte der Journalist und Theaterkritiker Paul Lindau als ersten Band seiner Roman – Trilogie über Berlin den Roman „Der Zug nach dem Westen“. Er schilderte darin die großbürgerliche Gesellschaft, die im Tiergartenviertel, dem heutigen Quartier um das Kulturforum herum, lebte. Nach und nach waren die aufstrebenden Familien aus der direkten Nachbarschaft ihrer Geschäfte, Fabriken und Werkstätten im Osten weiter in die Straßen rechts und links des Boulevards Unter den Linden gezogen und hatten sich schließlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hier zwischen dem alten Zentrum und dem aufstrebenden Westen um den Kurfürstendamm niedergelassen.
Auch die Familie Marckwald, Martha Liebermann war eine geborene Marckwald, machte diesen Zug mit. Der häufige Wechsel der Wohnung war zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich. Es gab bestimmte Termine im Jahr, zu denen die Mietverträge ausliefen, und dann war halb Berlin mit Sack und Pack auf den Straßen unterwegs. Die Wohlhabenderen ließen ihre Habe von gemieteten Fuhrwerken transportieren, die anderen schoben sie mit eigener Muskelkraft auf Handwagen zur nächsten Wohnung, die nicht selten nur wenige Straßen weit entfernt lag.
Marthas Geburtshaus
Marthas Geburtshaus befand sich am Schlossplatz Nr.3. Die Lage, mit dem Blick auf die mächtige Schlossfassade, im Dunstkreis der Majestäten, war sicher eine begehrenswerte. Man wohnte in einem großen Geschäftshaus. Auf einer etwas 50 Jahre später entstandenen Postkarte wird mit Reklameschildern über den Fenstersimsen für „Hartkes Zuschneide Akademie“ und für Gardinen von „Mahr und Jaeger“ geworben. Im Untergeschoss gab es ein Café. Vielleicht waren die Geschäfte 50 Jahre früher andere gewesen, aber bestimmt war das Haus kein reines Wohnhaus. Die ganze Gegend im Osten des Schlosses bis zum Alexanderplatz und im Südwesten bis zur Oberwallstraße und dem Hausvogteiplatz war das Geschäftsviertel des alten Berlin, Marthas Vater, Heinrich Benjamin Marckwald, betätigte sich dort als Kaufmann im Tuch- und Wollhandel.
Erste Umzüge
Als Martha gerade mal ein Jahr war, bezog die Familie eine Wohnung in der neuen Friedrichstraße 59. Sie befand sich in einem Haus hinter der Garnisonkirche, nicht weit vom Geburtshaus ihres späteren Mannes Max Liebermann, der in der Burgstraße geboren wurde, entfernt.
1860 siedelte man um in die Oberwallstraße 6a. Die Wohnung lag an der Ecke zur Jägerstraße, die mit typischem Berliner Witz „Gleichgültige Ecke“ genannt wurde. Den hier befindlichen Geschäften, ordnete man jeweils eine Redensart zu: „Alles Wurscht“ galt dem Fleisch und Wurstwarenhändler Niquet, „Alles Pomade“ dem Seifen- Und Parfümeriegeschäft Treu & Nuglisch, „Alles Schnuppe“ dem Kerzen- und Öllampenladen von Ferdinand Ludolf Gladebeck und „Jacke wie Hose“ dem Konfektionär Louis Landsberger. Dazu kam noch gelegentlich: „Alles Schein“ für die dort befindliche „Königliche Hauptbank“, denn man befand sich hier bereits im Bankenviertel. Die drei Geschäfte waren auch keine kleinen Kellergeschäfte, sondern zählten zu den besten ihrer Branche.
Weiter in die moderne Welt
Bereits 1861 verließ man die „Gleichgültige Ecke“ zugunsten einer Wohnung in der Französischen Straße 33d, zog also noch ein Stückchen weiter hinein in die moderne Welt der großen Gründerzeitpaläste. Dort blieb man immerhin 13 Jahre. Heute befindet sich an der Stelle die dunkel verglaste Hauptstadtrepräsentanz der Deutschen Telekom.
1870 starb Marthas Vater. Sein Freund Louis Liebermann, Max‘ Vater, übernahm die Vormundschaft der fünf Marckwald-Kinder und verwaltete das Vermögen. Natürlich fühlte er sich auch für ihren weiteren Lebenslauf verantwortlich. Es war wahrscheinlich ganz selbstverständlich für ihn, dass mindestens einer seiner Söhne ein Marckwald-Mädchen heiratete. Das tat Max‘ älterer Bruder Georg 1873. Er nahm Marthas Schwester Elsbeth zur Frau.
Ins ruhige Tiergartenviertel
Kurz zuvor war Martha mit den Schwestern und der Mutter fortgezogen ins ruhige Tiergartenviertel mit seinen großen Villen, den riesigen Gärten und repräsentativen Mietshäusern. Hier wohnten Bankdirektoren, Industrielle wie der Gründer der AEG, Emil Rathenau, Künstler wie Adolph Menzel. Wer sich hier eine Wohnung oder gar eine Villa leisten konnte, der hatte es geschafft.
Auch Max‘ Onkel Adolph Liebermann von Wahlendorf hatte hier eine prachtvolle Villa in der Tiergartenstraße 16 gebaut. In seiner Privatgalerie hing Adolph Menzels Monumentalgemälde „Eisenwalzwerk“, das heute in der Alten Nationalgalerie zu sehen ist.
In der Victoriastraße 9 hatten Martha, ihre Schwester Margarethe und die Mutter Quartier bezogen. Die älteste Schwester Charlotte war im Jahr zuvor kurz nach ihrer Hochzeitsreise an Typhus gestorben. Der einzige Bruder Benno wohnte wohl nicht mehr zu Hause. 1874 wurde eine Verbindungsstraße von der Potsdamer zur Matthäikirchstraße gebaut, die den Namen Margaretenstraße erhielt. Die Grundstücke Victoriastraße A-F und 29 A-D wurden der Margaretenstraße zugeschlagen. So kamen die Damen Marckwald zu einer neuen Adresse, nämlich Margaretenstraße 2, aber nicht zu einer neuen Wohnung. Sie wohnten in einer Art Doppelmietshaus, dreistöckig, seitenverkehrt gegliedert mit Mittelrisaliten.
Weiter gen Westen
Erst 1879 packten die Marckwalds wieder die Kisten und zogen in die Tiergartenstraße 2. Das Haus Tiergartenstraße 4 kaufte 1910 Georg Liebermann, Max Liebermanns Bruder, während im gleichen Jahr Max und Martha ihr Sommerhaus am Wannsee bezogen. Damit wurde der größte Schritt nach Westen getan. Die Mobilität durch Bahnanbindung, aber auch durch die Entwicklung und Verbreitung von Automobilen und später dem Bau der AVUS machten es möglich. Was früher „jwd“ war, war auf einmal ganz nah.
Das Haus Tiergartenstraße 10 aber erlangte im sogenannten „Dritten Reich“ traurige Berühmtheit als Ort der Planungen zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ durch die Nazis in der sogenannten „Aktion T4“.
Erste gemeinsame Wohnung mit Max
Aber zurück ins Jahr 1884. Der nächste Umzug Marthas führte in ihre erste gemeinsame Wohnung mit Max. In den Zelten 11, auf der anderen Seite des Tiergartens im Spreebogen. Ein Wochenendausflugsziel, ganz nah bei der Stadt. Aus den ehemaligen Bewirtungszelten waren feste Restaurants, Biergärten und Caféterrassen geworden. Clara Schumann hatte von 1873-78 ebenfalls In den Zelten 11 gewohnt, nur 6 Jahre, bevor das junge Paar einzog. Gegenüber hatte der Geiger Josef Joachim seine Villa sternförmig um einen großen Konzertsaal erbaut. Clara Schumann gab dort Hauskonzerte.
Vielleicht war Unter den Zelten schon zu abgelegen oder es ergab sich 1888 einfach ein günstigeres Angebot zurück ins Tiergartenviertel zu ziehen, denn das Haus Bendlerstraße 9 gehörte Max‘ Vetter Emil Rathenau. Gegenüber wohnte bereits Bruder Felix.
Pariser Platz
Als ihr Vater Louis Liebermann 1894 starb, erbte Max das Haus am Pariser Platz. Martha und er bezogen die zweite Etage. Sie sollten dort 41 Jahre bleiben. Max wurde nicht nur ein berühmter Maler, sondern auch ein allseits bekanntes und verehrtes Berliner Original. Jeder wusste, wo er wohnte – „gleich links, wenn man nach Berlin reinkommt“. Vielleicht war das der Grund dafür, dass Martha bereits im Herbst nach Max‘ Tod am 8. Februar 1935 das Haus verließ. Vielleicht wollte sie nicht so sehr auf dem Präsentierteller sitzen. Immer wieder liest man aber, Martha sei von den Nazis aus ihrem Haus vertrieben worden, doch der „Judenbann“, der Jüdinnen und Juden das Betreten bestimmter Stadtgebiete untersagte und schließlich auch den Pariser Platz unerreichbar machte, trat für den unteren Teil der Linden erst viel später, nämlich am 9. Mai 1942, in Kraft. Martha hatte da das Haus längst ihrer Tochter Käthe überschrieben, die es wiederrum ihrem nichtjüdischen Mann schenkte, was aber von den Nazis nicht anerkannt wurde. Die Besitzverhältnisse blieben bis nach dem Krieg ungeklärt. Erst nach 1989 wurde das Grundstück restituiert.
Graf-Spee-Straße
Marthas letzte Wohnung war keine ärmliche oder beengte Behausung, wie oft suggeriert wird. Sie zog in ein vornehmes Mietshaus, in die Graf-Spee-Straße 23. Dort wohnte ein Graf Henckel von Donnersmarck und ein Botschaftssekretär Storkowsky. Die Wohnung verfügte über eine Gasheizung, Gasherd und einen Gaskühlschrank. Ob Martha allerdings in der links vom Treppenhaus gelegenen Wohnung mit mindestens 12 Zimmern oder in der rechts mit etwa acht Zimmern gewohnt hat, war nicht mit Bestimmtheit herauszubekommen.
Eine Besucherin, Sabine Weyl, damals 22 Jahre alt, erzählte, die Wohnung sei viel kleiner gewesen als die am Brandenburger Tor. Die Menzel-Zeichnungen hätten im Küchenkorridor gehangen. Die Bücherregale seien im Entree aufgebaut gewesen. Das spräche für die Wohnung rechts. An anderer Stelle ist aber von 10 bis 12 Zimmern die Rede. Das spräche für die Wohnung links. Jedenfalls hingen in der Wohnung noch ein Degas und ein Manet, erzählte Weyl, die solche Werke noch nie in einer Privatwohnung gesehen hatte. Ihre Mutter hatte Martha eine ihrer letzten Haushaltshilfen, Weyls ehemaliges Kindermädchen Alwine Walther, vermittelt. Diese berichtete dann von Marthas Abtransport mit dem Dreiradlieferwagen und davon, dass „Herren von der Gestapo“ zahlreiche Dinge mitgenommen hätten aus der Wohnung, bevor die Graf-Spee-Straße 23 von Bomben zerstört wurde.
Marthas Ruhestätte
Marthas Ruhestätte nach ihrem Tod am 10. März 1943 lag dann wieder weit im Osten, nämlich auf dem Friedhof Weißensee. Eine Bestattung neben Max war zu diesem Zeitpunkt nicht möglich, weil die Nazis den Friedhof Schönhauser Straße zu dieser Zeit für die „Organisation Todt“ beschlagnahmt hatten. Ihre Grabstätte ist nach jüdischem Brauch auch nicht wieder belegt worden, als Martha 1954 umgebettet wurde. Sie lag im Feld D1 nahe dem Verwaltungsgebäude, Reihe 16.