Wir feiern Liebermann!
15.3.2021 von Dr. Joachim Kaak
Ein monumentales Liebermann-Werk in München
Im sechsten Teil unserer Gastblogging-Reihe „Wir feiern Liebermann!“ widmet sich Dr. Joachim Kaak, verantwortlicher Referent für die Neue Pinakothek in München, Max Liebermanns großformatigem Gemälde Frau mit Geißen in den Dünen von 1890 aus der Münchner Museumssammlung. Das außergewöhnliche Werk beeindruckt durch seine Größe, das Motiv, die Gattungszugehörigkeit und die Ausstellungshistorie.
Außergewöhnlich monumental
Frau mit Geißen in den Dünen ist ein recht monumentales Gemälde Max Liebermanns – und dies in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist das Werk mit den Maßen 127 x 172,5 cm ein ungewöhnlich großes Format für eine Darstellung, die dem Genre, also der Darstellung von Alltagszenen, zuzurechnen ist. In der akademischen Gattungshierarchie am unteren Ende angesiedelt, ist dem Genre üblicherweise das kleine Format vorbehalten, um Menschliches und Allzumenschliches wiederzugeben, ohne es zugleich an die große Glocke (etwa der repräsentativen Historienmalerei) zu hängen.
Zum anderen ist die Darstellung einer einzelnen Frau, die noch dazu dem Betrachter den Rücken zuwendet, mehr als ungewöhnlich. Sie ist geradezu aufsehenerregend: keine wohlfeile Tümelei feiernder Bauern, kein sehnsüchtiger Blick auf ein idyllisches Landleben, keine ironische Beobachtung lebensnaher Missgeschicke. Stattdessen zeigt Liebermann nur eine Frau mit zwei Ziegen in karger Dünenlandschaft unter bedecktem Himmel. Mühsam zieht die Bäuerin eine der Ziegen am Strick hinter sich her. Der in die Dünen eingetretene Pfad, dem sie folgt, verliert sich am Horizont; der Weg zum heimischen Hof und Stall erscheint noch weit. Es wird ein schwerer Gang werden, denn der Strick der widerspenstigen Ziege schneidet tief in die schon abgearbeitete Hand der Frau ein, staut das Blut und lässt die Hand blau anlaufen – ein Monument des kargen Lebens und harter Arbeit.
Ein nahezu „frisches“ Bild
Frau mit Geißen in den Dünen wurde 1891 auf der jährlichen Ausstellung im Glaspalast in München als erstes von mittlerweile acht Gemälden für die Neue Pinakothek erworben. Die äußerst pastos aufgetragene Ölfarbe mag dabei noch etwas gerochen haben, ausgehärtet war sie sicherlich noch nicht. Liebermann hatte sehr große Farbmengen aufgewendet und in Schichten aufgetragen, so dass z. B. der blassblau gespachtelte Himmel an der Horizontlinie auf dem Grün der Dünen regelrecht aufzustoßen scheint. Die nahezu plastisch modellierte Oberfläche verleiht dem spröden Motiv daher eine gewisse Lebendigkeit.
Ein holländisches Motiv
Liebermann hatte das Motiv zwei Jahre zuvor in Holland in seinem Skizzenbuch festgehalten, durch Details und Kompositionsstudien im Atelier weiter ausgearbeitet, mit Ölstudien die Bildidee skizziert, und das Bild im Winter 1889/90 in seinem Berliner Atelier ausgeführt. Vor der Ausstellung in München war das Gemälde im Salon von 1890 in Paris zu sehen; in München wurde es mit einer goldenen Medaille ausgezeichnet, ebenso 1894 in Wien. 1892 war es in Berlin ausgestellt, 1900 nahm es an der Weltausstellung wiederum in Paris teil. Zahlreiche weitere Ausstellungen folgten, während die extrem schwer auf der Leinwand sitzende und vielfältig krakelierte Malschicht heute jedoch eine Fragilität zeigt, die das Bild jeder Ausleihe entzieht.
Paris, München, Berlin, Wien
Frau mit Geißen in den Dünen ist ein Ausstellungsbild, konzipiert und gemalt, um Aufsehen zu erregen und um Anerkennung für den Künstler zu finden. Dies erklärt nicht nur das große Format, sondern wohl auch die Komposition, denn inmitten der nach Tausenden zählenden Exponate der großen Kunstausstellungen musste die groß aufragende, einzelne Figur unmittelbar ins Auge fallen. Auch die auf Grün- und Blautöne reduzierte Farbpalette mag die Monumentalität und damit die Sichtbarkeit des Bildes subtil erhöht haben. Vergleicht man das Werk etwa mit dem nur wenige Jahre zuvor entstandenen, vielfigurigen Münchner Biergarten, so ist der Unterschied evident.
Mit Motiv und Malweise fasste Liebermann seine Reisen nach Holland und seine Beobachtungen der Haager Schule mit Malern wie Anton Mauve, Jacob Maris u. a. zusammen.
Vorbild Manet
In der Komposition und der ausstellungstaktischen Konzeption des Bildes mag er sich aber wohl an Édouard Manet angelehnt haben, dessen gleichfalls zur Neuen Pinakothek gehörendes Gemälde Le déjeuner ähnlichen Prinzipien folgt. Neben dem großen Format und der hervorgehobenen Figur seines Stiefsohnes sticht vor allem die tiefschwarze Jacke des Jungen ins Auge, deren Signalwirkung inmitten aller Farbigkeit der im Salon ausgestellten Bilder nicht unterschätzt werden kann. Der Kritiker Edmond Duranty würdigte dieses Vorgehen denn auch mit den Worten: „In jeder Ausstellung fällt einem bereits auf 200 Meter Entfernung in der Enfilade voller Bilder eines ins Auge – es ist immer das von M. Manet.“
Die Neue Pinakothek – ein Museum für zeitgenössische Kunst
So kann auch der Ankauf von Frau mit Geißen in den Dünen als erste Erwerbung des bereits 44-jährigen Künstlers nicht überraschen. Die Neue Pinakothek folgte dem Anspruch, die zeitgenössische Malerei qualitätsvoll abzubilden und erwarb ‚Museumsstücke‘. Gleiches lässt sich für zahlreiche andere Künstler wie etwa Adolf Heinrich Lier, Eduard Schleich d. Ä. und Joseph Wenglein, aber auch für William Stott of Oldham und Alessandro Milesi beobachten, deren großformatige Landschaften auf den internationalen Ausstellungen überraschen und beeindrucken mussten. Der diesen Malern gewidmete Saal in der nun zur Sanierung geschlossenen Neuen Pinakothek konnte davon einen Eindruck geben.
Dr. Joachim Kaak ist seit 2003 verantwortlicher Referent für die Neue Pinakothek in München und betreut die Kunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.