Kunstwerk auf Papier mit Abbildung eines Herren in Anzug.
Max Liebermann, Porträt Walter Rathenau, 1912, Fotomechanische Drucktechnik auf Velin, 41 x 23,2 cm, Max-Liebermann-Gesellschaft, Foto: Oliver Ziebe, Berlin

Max Liebermanns Lichtdruck „Porträt Walther Rathenau“ (1912)

01.12.2022 von Viktoria Gehricke

Über einen weltpolitisch bedeutenden Verwandten Liebermanns und die schwierige Spurensuche zu druckgrafischen Werken

In einer vertiefenden Nachforschung im Rahmen des Seminars „Provenienzforschung zu Max Liebermann“ gemeinsam mit der TU Berlin, untersucht die Studentin Viktoria Gehricke die Provenienz eines Druckblattes von Max Liebermann und skizziert neben der Provenienzrecherche den Entstehungskontext dieses Werks.

Liebermann und Rathenau

„Komm nächstes Mal, damit ich dir deinen Antisemitismus austreibe.“ Dies war Max Liebermanns (1847–1935) Reaktion auf die Veröffentlichung des Artikels „Höre, Israel!“ 1897 durch seinen Neffen zweiten Grades Walther Rathenau (1867–1922) in der Berliner Wochenschrift „Die Zukunft“. Dessen Vater Emil Rathenau (1838–1915), Begründer der AEG, und Max Liebermann waren Cousins.

Der kontrovers diskutierte Artikel war der erste von vielen gewesen, die Walther Rathenau in der Zeitschrift seines engen Freundes Maximilian Harden (1861–1927) veröffentlichen sollte. Darin beschrieb er seine Sicht auf das sogenannte „Assimilationsjudentum“ und die seiner Auffassung nach bestehende Pflicht für das gehobene jüdische Bürgertum, sich der preußischen Gesellschaft anzupassen. Ohne eine Konvertierung oder den aus seiner Sicht „unehrlichen“ Übertritt zum Protestantismus, war Rathenau aufgrund seiner Abstammung jedoch selbst bis zum Ende des Kaiserreichs von höheren Posten in Militär, Ministerien und Beamtentum ausgeschlossen. Seine Kritik brachte ihm Vorwürfe des Selbsthasses und des innerjüdischen Antisemitismus ein – ein seinerzeit vieldiskutiertes Phänomen – weshalb er sich später von diesem Artikel distanzierte.

Gleichzeitig offenbart sich hierin viel über das Verhältnis zwischen Walther Rathenau und Max Liebermann, welcher seinem Neffen nach Lektüre des Vorab-Manuskriptes den eingangs zitierten kritischen, aber dennoch in liebevoll-versöhnlichem Ton gehaltenen Brief schrieb. Rathenau wiederum war die Meinung des 20 Jahre älteren Max Liebermann offenbar wichtig genug, um sie noch vor Veröffentlichung des Artikels einzuholen. Ferner schrieb er 1917 über die Rolle des Künstlers als seines Mentors, da er selbst der Kunst zugeneigt war und zeitlebens privat zeichnete, was nicht zuletzt die Skizzen in seinen Briefen bezeugen. Für die Kunst von Liebermann hatte er immer Bewunderung übrig, obwohl er dessen künstlerische Auffassung nur bedingt teilte, wie ein weiterer Aufsatz in Die Zukunft belegt, in welchem er jedoch die „alten echten Revolutionäre“ (wie Liebermann) von seiner Sezessions- und Moderne-Kritik ausnahm. Das durchaus lebhafte Verhältnis der beiden bestand ungebrochen bis zu Rathenaus tragischer Ermordung 1922 durch die rechtsextremen Attentäter der Organisation Consul.

Max Liebermanns Druckgrafik „Porträt Walther Rathenau“, 1912

Kunstwerk auf Papier mit Abbildung eines Herren in Anzug.

Abb. 1 Max Liebermann, Porträt Walter Rathenau, 1912, Fotomechanische Drucktechnik auf Velin, 41 x 23,2 cm, Max-Liebermann-Gesellschaft Berlin © MLG, Foto: Oliver Ziebe, Berlin

Die Druckgrafik auf Velin-Papier weist die Bildmaße 41 x 23,2 cm auf (Abb. 1). Sie zeigt Rathenau mit Halbglatze leicht seitlich stehend und bis zum Knie, im klassischen Dreiteiler mit Krawatte. Die linke Hand steckt leger in der Hosentasche, in der Rechten hält er eine Zigarette und greift ans Revers. Dabei geht sein Blick in Gedanken versunken schräg am Porträtisten vorbei. Der Strich ist locker und schnell ausgeführt, Falten und tiefe Schatten sind kräftig betont. Die ganze Figur wirkt eher skizzenhaft gestaltet, nur der Kopf ist feiner ausgearbeitet. Das Porträt ist in Gustav Schieflers Verzeichnis zum grafischen Werk Liebermanns nicht aufgeführt, erst in der ergänzenden Dissertation Achenbachs 1974 wurde es erfasst. Eine Ausführung als Gemälde ist nicht bekannt, jedoch erinnert die Haltung Rathenaus eindeutig an das von Edvard Munch 1907 gemalte Porträt (Abb. 2).

Gemälde eines Herren in Anzug in Ganzporträt.

Abb.2 Edvard Munch, Porträt Walther Rathenau, Berlin, 1907, Öl auf Leinwand, 200 cm x 110 cm, Sammlung Stiftung Stadtmuseum Berlin © Stiftung Stadtmuseum Berlin, Foto: Oliver Ziebe, Berlin

Das Blatt ging 2013 als Schenkung aus bayerischem Privatbesitz mit weitgehend unbekannter Vorgeschichte in den Besitz der Max-Liebermann-Gesellschaft ein. Auf dem linken unteren Blattrand ist ein Prägestempel (Abb. 3) im Papier zu erkennen, welcher die Umschrift „Kunstanstalt Albert Frisch, Berlin W./Kgl. Preussischer Hoflieferant“ trägt. Die Kunstanstalt Albert Frisch war Druckerei und Verlag zugleich, 1875 gegründet. Es bleibt dabei unklar, ob die Grafik dort nur verlegt oder tatsächlich auch gedruckt wurde.

Nahansicht eines geprägten Stempels im Papier.

Abb. 3 Prägestempel Kunstanstalt Albert Frisch, Detail von Max Liebermann, Porträt Walter Rathenau, 1912, Max-Liebermann-Gesellschaft Berlin © Max-Liebermann-Gesellschaft, Foto: Oliver Ziebe, Berlin

Bisher galt die Druckgrafik als Lithografie und wurde auch von Sigrid Achenbach als solche erfasst. Neue Untersuchungen am hier besprochenen Exemplar legen jedoch nahe, dass es sich womöglich um einen Lichtdruck handelt, ein fotomechanisches Edeldruckverfahren. Dieses 1868 vom Deutschen Joseph Albert erfundene Druckverfahren bot eine damals unerreicht hohe Qualität der Bildwiedergabe, bis hin zur Faksimilierung. Aufgrund der sehr komplexen Herstellung der Druckform und der Plattenabzüge galt der Lichtdruck schnell als eigene Kunstform. Von einer solchen Platte konnten maximal 1500 Drucke abgezogen werden, danach war sie verbraucht. Die Kunstanstalt Albert Frisch hatte sich insbesondere auf das Lichtdruckverfahren spezialisiert und die Produktion von Lithografien noch vor 1900 eingestellt, was wiederum für einen Edeldruck spricht. Die Identifikation bestimmter grafischer Druckverfahren ist selbst für Experten oft schwierig und ist mitunter kaum zweifelsfrei festzustellen, weshalb nach wie vor in Betracht gezogen werden muss, dass es sich auch um eine Lithografie handeln könnte.

Die Bedeutung der Handzeichnung für Liebermanns druckgraphisches Werk

Im Tagebucheintrag Walther Rathenaus vom 26. Oktober 1912 findet sich fast lapidar der Kommentar: „Jeden Mittag beim Zahnarzt. Dazwischen von Max L[iebermann] gezeichnet, für Hauptmann.“ So beiläufig der kurze Satz heute erscheinen mag, so wertvoll ist er für die Provenienzforschung, denn er bestätigt die Entstehung mindestens einer Zeichnung von Rathenau durch Liebermann und dokumentiert, dass er für diese tatsächlich Modell gestanden hat.

Um das druckgrafische Werk Liebermanns zu verstehen, sind seine Zeichnungen nicht unerheblich, da er diese meist als Vorlage nutzte, wie es unter den Künstler*innen seinerzeit verbreitet war. Daher sollen in den folgenden Abschnitten auch die Zeichnungen zum Porträt näher betrachtet werden, deren Provenienzen womöglich bei der Rekonstruktion der Herkunft der untersuchten Druckgrafik helfen. Zunächst entstand mit schneller Hand, meist in Kohle oder Kreide, eine flüchtige Skizze, die ganz im Sinne des impressionistischen Gedankens aus dem Moment heraus erfasst war. Insbesondere die Technik der Lithografie zum Beispiel bot Möglichkeiten, den situationsgebundenen Eindruck und damit zugleich Liebermanns Kunstauffassung in ein Druckmedium zu übertragen. Gleichzeitig war eine weite Verbreitung garantiert, da der Erwerb von günstigen originalen Kunstdrucken einem breiten Publikum möglich war.

Porträt auf Papier eines Herren in Anzug.

Max Liebermann, Porträt Walther Rathenau, 1912, Kreide auf Papier, 44,7 x 28,8 cm. © Saarland Museum Saarbrücken, Stiftung Saarländischer Kulturbesitz, Sammlung Kohl-Weigand, 2004, aus: Ausst.-Kat. Max Liebermann als Zeichner. Sammlung Franz-Josef Kohl-Weigand, hrsg. von Hans-Jürgen Imiela, Mainz 1970 (= Kleine Schriften der Gesellschaft für Bildende Kunst in Mainz, Heft 39), Kat.-Nr. 70, Abb. S. 30

Was das Porträt Walther Rathenaus betrifft, so sind drei Zeichnungen bekannt, die alle auf 1912 datiert werden, ebenso wie die entsprechende Druckgrafik. Da das Blatt selbst uns keine weiteren Hinweise zu seiner Provenienz liefert, lohnt es sich zunächst die drei erwähnten Handzeichnungen anzusehen, die als mögliche Vorzeichnungen in Betracht gezogen werden können. Die erste, unsignierte Zeichnung (Abb. 4) befindet sich seit 1982 im Bestand des Saarland Museums Saarbrücken und stammt aus der ehemaligen Sammlung Franz-Josef Kohl-Weigands (1900–1972), St. Ingbert. Sie weist zwar einen deutlichen Bezug zur untersuchten Druckgrafik auf, was Haltung, Perspektive, Ausdruck und Kleidung betreffen, ist aber ein Hüftbild und insbesondere vom Hals abwärts, eine noch wesentlich skizzenhaftere Darstellung des Porträtierten.

Eine zweite Zeichnung ist durch eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM) Berlin von 1993–94 bekannt und im zugehörigen Katalog unter Nummer 2/4b erfasst, welcher zwar Angaben zu Maßen und Signatur enthält und auf den (damaligen) Verbleib der Zeichnung in Stuttgarter Privatbesitz verweist, aber keine Abbildung umfasst. Nach Anfrage verfügt das DHM über keine Ausstellungsdokumentation mehr, in der das Exponat mit abgebildet wäre. Daher lässt sich nicht mehr nachvollziehen, wie sich das Motiv dieses Exemplars darstellte und ob es dem zu untersuchenden Objekt ähnelt.

Die dritte Zeichnung leicht schließlich unserer Druckgrafik enorm und dürfte somit wahrscheinlich die unmittelbare Vorlage gewesen sein. Die Provenienzstationen sind beinahe vollständig rekonstruierbar, da dokumentiert ist, dass das Exemplar aus dem Vorbesitz Anja Hauptmanns (*1943) stammte. Sie hatte es von ihrem Vater Benvenuto (1900–1965), dem Sohn des Schriftstellers Gerhart Hauptmann (1862–1946) geerbt. Hier wird das oben angeführte Zitat aus dem Tagebuch Walther Rathenaus erneut wichtig, da es belegt, dass er 1912 für das Porträt „für Hauptmann“ Modell saß, zu welchem Rathenau freundschaftliche Beziehungen pflegte. Auch dieses Blatt war 1993 im DHM ausgestellt und wird im oben genannten Katalog, ohne Abbildung, unter der Nummer 2/4c geführt, wobei als Leihgeber Günter Schilling, Bad Homburg, genannt wird. Alles spricht also für die Vermutung, dass es sich um einen Druck nach der Vorzeichnung für Hauptmann handelt. Die Zeichnung wurde ferner 2004 im Auktionshaus Grisebach in Berlin versteigert. Der Katalog zur Auktion enthält nicht nur erstmals eine ganzseitige Abbildung des Objekts, sondern auch eine Provenienzangabe, welche Gerhart Hauptmann und  seine Erb*innen als Vorbesitzer*innen nennt, sowie eine Privatsammlung in Hessen, bei der es sich um jene des Günter Schilling in Bad Homburg handelt, vergleicht man die Angaben mit denen im Katalog des DHM. Der Unterschied dieser Zeichnung zu unserer Druckgrafik besteht nur in einigen zusätzlichen blauen Kreidelinien der Vorzeichnung, die nicht in den Druck übernommen wurden.

Zur Provenienz des Blattes der Max-Liebermann-Gesellschaft

Im Rahmen des Provenienzforschungsprojektes in der Liebermann-Villa am Wannsee wird die Druckgrafik „Porträt Walther Rathenau“ aus dem Jahr 1912 von Max Liebermann nach Anzeichen auf NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut überprüft.

Über den Lichtdruck selbst sind bislang wenige Provenienzangaben bekannt. Es konnte nach derzeitigem Informationsstand kein ähnliches Blatt nachgewiesen werden, dass in den Handel oder in Auktionen gelangte. Sigrid Achenbach erfasste 1974 ein weiteres Exemplar als Lithografie im Besitz des Dr. Felix Mainz, Tel Aviv. Dieses soll allerdings im Prägestempel den Zusatz „II. Druck“ aufweisen. Obwohl auch sie vermutet, eine Lithografie könne in nur sehr niedriger Auflage produziert worden sein, scheint es entweder zwei Auflagen oder nur einzelne Probedrucke gegeben zu haben. Der Mangel an bekannten Exemplaren der Druckgrafik zum Porträt könnte für die Probedrucke sprechen.

Ein als Lithografie geführtes Exemplar ist durch Achenbach auch im Katalog einer Ausstellung der Berliner Nationalgalerie von 1979 überliefert. Der unbebilderte Katalogeintrag dokumentiert mit unserem Exemplar genau übereinstimmende Bild- und Blattmaße, sowie die gedruckte Signatur und den gleichen Prägestempel der Kunstanstalt (hier ohne den Zusatz „II. Druck“). Als Leihgeber wird eine Privatsammlung in Berlin angegeben. Nicht zu klären war im Zuge der Recherchen, ob es sich um ein weiteres Exemplar oder aber um dasselbe Blatt handelt, welches 2013 in die Sammlung der Max-Liebermann-Gesellschaft kam.

Letzteres weist beidseitig keinerlei Auffälligkeiten oder Provenienzmerkmale auf, wie z. B. Stempel, handschriftliche Vermerke oder Etiketten. So ist eine Verknüpfung mit Archivalien, Erwähnungen und Hinweisen in historischen Dokumenten nach der derzeitigen Informationslage nahezu unmöglich. Ein möglicher Schritt wäre die Suche nach weiteren historischen Primärquellen, wie Geschäfts- oder Auftragsbücher der Kunstanstalt Albert Frisch, die – sofern noch vorhanden – Aufschluss darüber geben könnten, wann, in welcher Auflage und auf welchen Wegen die Edeldrucke produziert wurden. Sie könnten vielleicht auch die Frage beantworten, wer den Auftrag erteilte das eigentlich für Hauptmann bestimmte Porträt reproduzieren zu lassen und weshalb.

Bei der Provenienzuntersuchung der Druckgrafik Porträt Walther Rathenau bleiben also viele Fragen offen, die sich ohne das Auftauchen neuer Quellen, Hinweise oder Sekundärabbildungen nur schwerlich aufklären lassen. Auf der anderen Seite jedoch steht der Gewinn eines tieferen Verständnisses für Max Liebermanns Experimentierfreude im Bereich der Druckgrafik, für sein exemplarisches Verhältnis zu entfernterer Verwandtschaft, sowie seine Ansicht zum Thema der „Assimilation“ des jüdischen Bürgertums. Ferner sind nebenbei auch signifikante Provenienzerkenntnisse zu den Zeichnungen angefallen, die der Druckgrafik als Vorlage dienten.

Die Provenienz des Objekts konnte zwar nicht abschließend geklärt werden, ein Verdacht auf Raubkunst scheint jedoch unwahrscheinlich, da es keine Hinweise auf Auktionen oder Verkäufe von Exemplaren eines Lichtdrucks oder einer Lithografie und keine dokumentierten Verlustmeldungen gibt.