Provenienzlücke geschlossen
13.2.2023 von Alice Cazzola
Neues zum Raubkunstfall des „St. Adriansschützen“ von Max Liebermann
Unsere Ausstellung „Wenn Bilder sprechen. Provenienzforschung zur Sammlung der Liebermann-Villa“ (bis 13. März 2023) spiegelt den Stand unserer Provenienzrecherchen von Juni 2022 wider. Ein halbes Jahr und weitere Forschungsarbeiten im Rahmen des vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste finanzierten Projekts haben neue Erkenntnisse zu den meisten Exponaten gebracht. Unsere Provenienzforscherin Alice Cazzola berichtet im Folgenden über eine besonders interessante Entdeckung, die zur Schließung der noch offenen Provenienzlücken von Max Liebermanns „St. Adriansschützen“ führte. Das einzige Objekt der Sammlung der Max-Liebermann-Gesellschaft, das bislang als Raubgut identifiziert werden konnte. Über den Fall und die großzügige Einigung mit Liebermanns Erbinnen lesen Sie hier mehr. Ein ergänzendes Video zum Beitrag finden Sie auf Facebook oder Instagram.
Rückblick: Die zuvor bekannten Provenienzstationen
Schlüsselwerk der Ausstellung ist die Kopie von Max Liebermanns „Kopf eines St. Adriansschützen aus dem Jahr 1627“ nach dem niederländischen Maler Frans Hals (Abb. 1). Das Gemälde blieb nach seiner Entstehung im Besitz des Künstlers. Für den Zeitraum zwischen 1914 und 1923 belegt dies die Besitzangabe „Max Liebermann, Berlin“ in den Veröffentlichungen des Kunstschriftstellers Erich Hancke. Im Jahr 1931 fotografierte Erich Salomon Liebermann in seinem Haus am Pariser Platz. Eine dieser Aufnahmen zeigt den Künstler in seinem Atelier, hinter ihm ist Kopie nach Frans Hals zu erkennen (Abb. 2).
Der Abdruck des Nachlassstempels „MLiebermann“ mit faksimilierter Liebermann-Signatur (Abb. 3) am unteren rechten Bildrand weist zudem darauf hin, dass das Werk bis mindestens März 1935 der Witwe des Künstlers, Martha Liebermann (1857–1943), gehörte. Zu dieser Zeit versah sie alle noch in ihrem Besitz befindlichen unsignierten Werke ihres am 8. Februar 1935 verstorbenen Ehemannes mit ebendieser faksimilierten Signatur des Künstlers.
In den Jahren nach 1935 ging das Werk verloren. Wir wussten nicht, ob das Gemälde nach Martha Liebermanns Tod von der Gestapo am 24. Juli 1943 in ihrer Wohnung in der Graf-Spee-Straße 23 (heute Hiroshimastraße) beschlagnahmt wurde oder ob Martha es schon zuvor verfolgungsbedingt aus finanzieller Not verkaufen musste. In beiden Fällen ist das Gemälde als Raubkunst einzustufen, da sich aufgrund der NS-Verfolgung die Besitzverhältnisse zwischen 1933 und 1945 geändert haben. Die rote Kennzeichnung in unserer Ausstellung bedeutet, dass die Provenienz für den Zeitraum zwischen 1933 und 1945 höchstwahrscheinlich belastet ist.
2022 konnte eine Einigung mit den Urenkelinnen von Max und Martha Liebermann erzielt werden. Die Nachfahrinnen verzichteten auf eine Entschädigung oder Rückgabe und stimmten dem Verbleib des Werks in der Sammlung der Max-Liebermann-Gesellschaft ohne materielle Entschädigung zu. Es wurde vereinbart, dass in allen Veröffentlichungen und Ausstellungen des Werks auf seine Provenienz aus dem Nachlass des Künstlers hingewiesen wird.
Elise Wiener: Die fehlende Schlüsselperson
Ab März 1935 war über Jahrzehnte unklar, wo das Werk verblieben war. Im Werkverzeichnis der Ölbilder Max Liebermanns von 1995 galt das Werk als verschollen. Im Zuge neuer Recherchen konnten wir herausfinden, dass der „St. Adriansschütze“ in zwei Liebermann-Ausstellungen in Palästina, 1943 und 1945, gezeigt wurde. Als Leihgeberin der erwähnten Ausstellungen im Tel Aviv Museum 1943 und im Bezalel National Museum in Jerusalem 1945 war eine gewisse Mrs. Wiener vermerkt.
Dank eines überlieferten Briefwechsels aus dem Archiv des Israel Museum in Jerusalem konnten wir die Identität von Frau Wiener klären. In den Briefen von Januar und Februar 1945 verhandelten der Museumdirektor Mordechai Narkiss und Frau Wiener den Versicherungswert der Leihgabe. Ihre Adresse lautet darin: 25 Sderot Chen Tel Aviv.
Im israelischen Staatsarchiv haben wir sodann die Application for Palestinian Citizenship von Elise Wiener aus dem Jahr 1941 finden können (Abb. 4). Die Antragstellerin, gemeldet unter der bekannten Adresse, war 1879 in Frankfurt am Main mit dem Nachnamen Hess geboren. 1900 heiratete sie den erfolgreichen Hausmakler Edmund Louis Wiener (1874–1943) aus Hamburg Altona. Zusammen hatten sie drei Kinder: Fredy, Kurt und Hedda. 1930 folgte die Scheidung.
Aus den Wiedergutmachungsakten im Hamburger Staatsarchiv geht hervor, dass die Familie Wiener als eine der ersten in der Stadt Hamburg schon 1933 von den Nationalsozialisten verfolgt wurde. Edmund und seinen Söhnen wurde Steuerhinterziehung vorgeworfen, wodurch sie Millionenbeträge zahlen sollten. Nachdem die Söhne Kurt und Fredy aus der Haft freigekauft werden konnten, flohen sei über Prag, Wien und Nizza im Jahr 1934 nach Palästina.
Elise Wiener zog hingegen 1933 nach Berlin. Der Grund für ihren Umzug ist uns nicht bekannt, vermutlich kannte sie jemanden in der Hauptstadt.
Im Dezember 1938, als es für Jüdinnen und Juden beinahe unmöglich geworden war in Deutschland zu leben, emigrierte Elise Wiener mit ihrer Tochter Hedda und deren Familie (Walter Cohn und den Enkelkindern Peter und Hannelore) nach Palästina. Zunächst fuhren sie mit dem Zug bis nach Triest und erreichten mit dem Dampfer Galilea am 2. Januar 1939 Haifa. Auch hierzu ist eine Einwanderungsliste aus dem Jahr 1939 erhalten, auf der sie namentlich erwähnt sind, sowie eine Eidesstattliche Versicherung von Elise Wiener aus dem Jahr 1955 in ihrer Entschädigungsakte.
Bislang konnten wir keine Inventarliste ihres Reiseguts ausfindig machen. Elise Wiener könnte in ihrem Umzugsgut das Bild versteckt haben. Die meisten Exilant*innen hatten etwaige Kunstwerke noch in Deutschland zwangsversteigern müssen.
Einige Fragen bleiben nach wie vor offen
Auch wenn die Provenienzlücke nach Anbringung des Nachlassstempels auf dem Bild im Jahr 1935 geschlossen werden konnte, bleiben noch einige Fragen unbeantwortet. Wie kam Frau Wiener in den Besitz der Frans-Hals-Kopie nach März 1935? Kannte sie Martha Liebermann persönlich? Handelt es sich hierbei um einen „innerjüdischen“ Kauf oder Tausch? Drohte für das Bild in Nazi-Deutschland eine Beschlagnahme und sollte es mit der Übergaben an Elise Wiener gerettet werden? In diesem Falle muss es im Geheimen geschehen sein, weshalb es heute – über siebzig Jahre nach dem Ereignis – schwer ist die Situation im Detail zu rekonstruieren.
Gesichert ist, dass Martha Liebermann als Geschädigte das Bild veräußerte und dass Elise Wiener Deutschland verlassen musste. Sie nahm das Bild mit in die Emigration und stellte es später für Liebermann-Ausstellungen zur Verfügung. Nach ihrem Tod vermachte sie das Werk ihrem Sohn Kurt Wiener (1903–2000). Dieser hinterließ es testamentarisch einem Freund, der das Werk 2002 bei einem Berliner Auktionshaus einlieferte. Die Provenienzangabe im Katalog lautet: „Nachlaß des Künstlers / Privatsammlung, Israel“. Nachdem das Werk auf der Auktion unverkauft blieb, wurde es 2003 im Nachverkauf durch die Max-Liebermann- Gesellschaft erworben.
Auch wenn alle Rechtsansprüche durch die Einigung mit den Erbinnen im Januar 2022 geklärt wurden (das Werk ist auf der Lost-Art Datenbank als restituiert gekennzeichnet), ist es uns ein großes Anliegen, die Geschichte des Gemäldes möglichst lückenlos auch zwischen 1935 und heute zu rekonstruieren. Mittels umfangreicher Quellenrecherchen konnten wir die „israelische“ Provenienz des Werks aufdecken und erhoffen uns die Geschichte dieses Bildes immer weiter vervollständigen zu können.