Brief von Bruno Cassirer an Max Liebermann, datiert 28. Februar 1919. Schreibmaschinentext mit handschriftlicher Signatur von Bruno Cassirer und zwei Federskizzen einer Landschaft von Liebermann.
Max Liebermann, Skizzenblatt zu J. W. von Goethes „Der Mann von 50 Jahren“, nach 28.02.1919, Feder und Bleistift auf Velinpapier, 29 x 20,9 cm, Max-Liebermann-Gesellschaft, Foto: Oliver Ziebe

Max Liebermanns Zeichnungen für Bruno Cassirer

02.11.2022 von Anja Matsuda

Skizzenblätter der Goethe-Erzählungen „Novelle“ und „Mann von 50 Jahren“

In einer vertiefenden Nachforschung im Rahmen des Seminars „Provenienzforschung zu Max Liebermann“ (lesen Sie hier die einleitenden Worte zum Projekt von Prof. Dr. Meike Hopp) gemeinsam mit der TU Berlin, untersucht die Studentin Anja Matsuda die Provenienz zu drei Studienblättern von Max Liebermann und skizziert neben der Provenienzrecherche den Kontext sowie die Verlustgeschichte dieser Werke.

Liebermann und Goethe

Max Liebermann (1847–1935) verehrte Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) als größten Dichter seiner Zeit. Wer Liebermanns Korrespondenzen studiert, begegnet immer wieder der Auseinandersetzung mit Goethes Werk – als Dichter sowie als Maler. Ebenso häufig zitiert Liebermann sein poetisches Idol.

Für seinen Verleger Bruno Cassirer (1872–1941) illustrierte Liebermann die Ausgaben der Goethe-Erzählungen „Novelle“ (1921) und „Mann von 50 Jahren“ (1922). Neben den beiden Buchausgaben ließ Cassirer ebenfalls Mappen mit den Federzeichnungen der illustrierten Szenen in Holzschnitten reproduzieren. Seit 1914, zu Beginn des ersten Weltkriegs, ergänzen Zeichnungen wie diese Buchillustrationen, aber auch Gestaltungen für alttestamentliche Geschichten sowie Gelegenheitsblätter Liebermanns grafisches Œuvre.

Die Skizzenblätter

In der Sonderausstellung „Schwarz-Weiß. Liebermanns Druckgrafik“, die vom 6. März bis zum 6. Juni 2022 in der Liebermann-Villa gezeigt wurde, waren unter anderem drei signierte Blätter mit Skizzen für die Illustrationen der beiden Goethe-Publikationen ausgestellt. Davon werden, die ersten zwei hier besprochenen Blätter auch in der aktuellen Schau „Wenn Bilder sprechen. Provenienzforschung zur Sammlung der Liebermann-Villa“ präsentiert.

Zwei der für die Entwürfe zum Teil doppelseitig genutzten Blätter sind auf Briefpapier des Verlegers Bruno Cassirer gezeichnet. Eines davon ist ein Brief, den Cassirer am 28. Februar 1919 an Max Liebermann schrieb (Abb. 1):

Brief von Bruno Cassirer an Max Liebermann, datiert 28. Februar 1919. Schreibmaschinentext mit handschriftlicher Signatur von Bruno Cassirer und zwei Federskizzen einer Landschaft von Liebermann.

Abb.1 Max Liebermann, Skizzenblatt zu J. W. von Goethes „Der Mann von 50 Jahren“, nach 28.02.1919, Feder und Bleistift auf Velinpapier, 29 x 20,9 cm, Max-Liebermann-Gesellschaft, Foto: Oliver Ziebe

Sehr geehrter Herr Liebermann,
Ich schicke Ihnen beiliegend durch Boten mit bestem Dank die prachtvollen Zeichnungen zum „Mann von 50 Jahren“ (9 Blatt) wieder zurück und lege eine Anzahl meiner Briefbogen für neue Zeichnungen bei.
Mit besten Empfehlungen
Bruno Cassirer

Auf der Vorder- sowie Rückseite sind Entwürfe für die Illustrationen zur Erzählung „Mann von 50 Jahren“ mit Bleistift sowie einer Feder gezeichnet worden. Diese Skizzen auf der Vorder- und Rückseite (Abb. 2) lassen sich den fertiggestellten Szenen der drei Jahre später veröffentlichten Publikation nicht eindeutig zuordnen. In der Mitte dieses Briefpapierbogens ist bei genauer Durchleuchtung ein Wasserzeichen zu erkennen.

Rückseite des Briefes von Bruno Cassirer an Max Liebermann, datiert 28. Februar 1919 (Abb. 1). Fünf Federskizzen und zwei Bleistiftskizzen u. a. mit Landschaften und vereinzelte Personen von Liebermann. Unten rechts Signatur von Liebermann in Feder „MLiebermann“.

Abb. 2 Max Liebermann, Skizzenblatt zu J. W. von Goethes „Der Mann von 50 Jahren“, nach 28.02.1919, Rückseitenansicht, Foto: Oliver Ziebe

Dafür lassen sich die vier Entwürfe auf der Vorderseite des zweiten Briefpapiers (Abb. 3), das ebenfalls den Briefkopf von Bruno Cassirer trägt („Bruno Cassirer /Verlagsbuchhandlung /Derfflingestr. 15“), eindeutig der illustrierten Szene auf Seite 56 des Buches zuordnen.

Vier undatierte Skizzen, davon eine in Feder und der Rest in Bleistift, auf Briefpapier mit Briefkopf von Bruno Cassirer (dieser lautet: „Bruno Cassirer Verlagsbuchhandlung Derfflingerstraße 15).

Abb.3 Max Liebermann, Skizzenblatt zu J. W. von Goethes „Der Mann von 50 Jahren“, wohl um 1919, Tuschfeder und Bleistift auf Velinpapier, 28,9 x 20,9 cm, Max-Liebermann-Gesellschaft, Foto: Oliver Ziebe

Auf dem dritten Blatt skizzierte Max Liebermann drei verschiedene Szenen für seine Illustration der Erzählung „Novelle“ (Abb. 4): Einen Posaunenspieler für eine Initiale der Geschichte auf der ersten Seite, eine Jagdszene, die im Buch beinahe identisch auf Seite 9 zu finden ist, und mehrere Entwürfe für zwei weitere Szenen auf Seite 12 und 13.

Neun undatierte Skizzen in Bleistift auf der Rückseite des auf Briefpapier von Bruno Cassirer (Abb. 3). Mehrere Szenen aus der Novelle von Goethe, darunter die Besichtigung der Pläne. Unten Signatur von Liebermann in Bleistift „MLiebermann“.

Abb.4 Max Liebermann, Skizzenblatt, o. J., Bleistift auf Velin, 32,8 x 21 cm, Max-Liebermann-Gesellschaft, Foto: Oliver Ziebe

Die Rückseite dieses Blattes macht den Anschein eines Notizzettels (Abb. 5). Es finden sich dort aufgelistete und zum Teil durchgestrichene Familiennamen, einzelne Stichwörter wie „Grundfrage“, „Kirche und Schule“ sowie Teilsätze wie „das Reich hat den Einzelstaaten so viel wegzunehmen [sic]“. In einem gezeichneten Kasten ist ein Paragraf notiert: „Niemand ist verpflichtet über seine Confession Auskunft zu geben § 144 der 49er Verfassung.“ Dieser Paragraf war Teil der am 27. März 1849 verabschiedeten Verfassung des Deutschen Reiches. Dort heißt es: „Jeder Deutsche hat volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren.“

Rückseite des undatierten Blattes (Abb. 4) mit verschiedenen Bleistiftnotizen und Kritzeleien.

Abb. 5 Max Liebermann, Skizzenblatt, o. J., Rückseitenansicht, Max-Liebermann-Gesellschaft, Foto: Oliver Ziebe

Diese Seite des Skizzenblattes wirkt wie die Notizen einer politischen Unterhaltung oder Diskussion. Einer der durchgestrichenen Familiennamen ist Riezler. Kurt Riezler (1882–1955), Botschafter und Politiker bis Anfang der Zwanziger Jahre, war mit Liebermanns Tochter Käthe (1885–1952) verheiratet. Er bekleidete eine Stelle als Pressereferent im Auswertigen Amt, war Botschaftsrat in Moskau bis er im Oktober 1918 Kabinettschef des letzten kaiserlichen Staatssekretärs des Auswertigen Amtes Wilhelm Solf (1862–1936) wurde.

Ein Prägezeichnen „R.A.d.Innern.“ markiert das Blatt als einen Briefbogen des Reichsamts des Innern, das ab dem 11. Februar 1919 zum Reichsministerium des Innern wurde. Ob das Briefpapier aus dem Besitz Kurt Riezlers stammen und die Notizen ihm zu zuordnen sind, könnte möglicherweise ein Handschriftenabgleich beantworten.

Alle drei Skizzenblätter wurden im November 2002 durch die Max-Liebermann-Gesellschaft im Berliner Kunsthandel erworben. Die entsprechenden Lose waren im Katalog mit der Provenienz „Aus der Sammlung Bruno Cassirer“ vermerkt.

Der Verleger Bruno Cassirer und seine Kunstsammlung

Bruno Cassirer wurde in eine jüdische Familie in Breslau geboren. Als studierter Kunsthistoriker gründete er mit seinem Cousin Paul Cassirer 1898 die Verlagsbuchhandlung und Galerie B. und P. Cassirer. Schon zur ersten Ausstellungseröffnung wurden Werke von Max Liebermann gezeigt.
Liebermann warb die Cousins als Sekretäre der 1899 gegründeten Berliner Secession an. Ihre Geschäftsräume dienten der Künstlervereinigung zeitweise als Versammlungsort. Auch Leidenschaft und das Engagement der Cousins für die moderne Kunst waren Max Liebermann geprägt.

1901 trennten sich die geschäftlichen Verbindungen der Cassirers: Paul führte den Kunstsalon und Bruno den Verlag weiter.

Nach der „Machtübernahme“ durch Adolf Hitler 1933 wurde die Verlagsarbeit schwierig. 1936 wurde jüdischen Verlegern die Mitgliedschaft der Reichsschriftumskammer entzogen. Im selben Jahr erschien das letzte Buch im Bruno-Cassirer-Verlag. Im Dezember 1938 emigrierten Bruno Cassirer und seine Familie nach Oxford, wo er am 29. Oktober 1941 verstarb.

Bruno Cassirers Kunstsammlung, die er in Berlin in Teilen zurücklassen musste, wurde 1942 beschlagnahmt und im Auftrag des Oberfinanzpräsidenten Berlins am 1. März 1944 durch die selbständige Auktionatorin Charlotte Oellerich (1900–1965) versteigert. Darunter waren Werke von Lovis Corinth, Max Slevogt und Edvard Munch. Unter den Käufern waren neben bekannten Kunsthändlern wie Hildebrand Gurlitt auch Museumsleiter wie Paul Ortwin Rave, der einige Gemälde für die Nationalgalerie erwarb.

Charlotte Oellerich erhielt seit November 1941 Aufträge für Versteigerungen vom Oberfinanzpräsidenten Berlins. Sie leitete Versteigerungen von eingelagertem Privateigentum und Wohnungseinrichtungen. Ab dem 1. April 1942 war sie Mitglied der NSDAP. Wie Oellerichs – sie hieß spätestens 1956 Wulf mit Nachnamen – beruflicher Werdegang nach 1945 verlief, und ob sie ein Entnazifizierungsverfahren durchlief, ist bisher unbekannt.

In einer Auflistung der Sammlung von Bruno Cassirer, die den Stand vom 27. April 1938 führt, werden unter anderem mehrere Werke von Liebermann aufgeführt. Neben einigen genauer bezeichneten Zeichnungen, Pastellen und Gemälden, etwa einem Selbstporträt, befanden sich darunter auch viele nicht näher bezeichnete oder beschriebene Konvolute von Radierungen, Lithografien, Holzschnitten, Zeichnungen, Aquarelle und Probedrucken. Ob die drei Skizzenblätter für die Goethe-Erzählungen unter dem beschlagnahmten Besitz der Familie Bruno Cassirer waren, lässt sich durch die Wiedergutmachungs- und Entschädigungsakten sowie die Akten des Oberfinanzpräsidenten also weder belegen noch ausschließen.

Provenienzforschung

Vergleichbare Werke wurden durch das Projekt „Provenienzrecherche Gurlitt“ aus dem Nachlass Hildebrand Gurlitts untersucht. Eine Tuschezeichnung mit dem Motiv „Schlittschuhläufer“, ebenfalls ein Entwurf zu Goethes „Mann von 50 Jahren“, ist auf einem Fragment einer Einladung der Akademie der Künste in Berlin im Februar 1919 gezeichnet. Wie dieses Blatt in den Besitz des Kunsthändlers gelangte, konnte bisher nicht erschlossen werden. Es wird angenommen, dass sich diese Zeichnung sowie ein weiterer Entwurf zu Goethes „Mann von 50 Jahren“ ab spätestens August 1954 im Besitz Gurlitts befanden. Da er in demselben Jahr beide Blätter der Liebermann-Ausstellung in der Kunsthalle Bremen als Leihgabe zur Verfügung stellte. Die Provenienzrecherche ordnet die Zeichnungen mit dem Zusatz „wohl“ der Nummer 186 zu.

Durch die Recherche in der Auktionsdatenbank Artprice ließen sich auch im Kunsthandel weitere Studien zu Goethes „Mann von 50 Jahren“ ausfindig machen, die auf Briefpapier Bruno Cassirers gezeichnet wurden. Eine dieser kürzlich beim Auktionshaus Grisebach versteigerten Zeichnungen gibt als Provenienz „Ehemals Nachlass Bruno Cassirer, Berlin/Oxford“ an. Auch hier stellt sich die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Zeichnung den Nachlass Bruno Cassirers verließ und in den Kunsthandel gelangte.

Ausblick

Es bleiben auch nach ausführlicher Recherche in der Literatur, den Berliner Archiven sowie den einschlägigen Provenienzdatenbanken viele Fragen zur Provenienz der drei beforschten Blätter offen. Vor allem die Frage nach den Einliefer*innen der letzten 20 Jahren in den Kunsthandel.

Um dem weiter nachzugehen ist eine vertiefende Kontextforschung zum Nachlass der Familie Bruno Cassirers sowie den recherchierten Vergleichswerken der drei Blätter erforderlich.